Herbert Büchsenschuss trank den Mao Tai in winzigen Schlucken. Da er über ein fotographisches Gedächtnis verfügte wusste er, dass das Getränk 55 Prozent Alkoholgehalt hatte. Natürlich hätte er den Schnaps verweigern können, aber wann wurde man vom Ministerpräsidenten schon einmal eingeladen. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn und die Anspannung ließ nach.
„Sagen Sie mal, Herr Fan Dung, Sie hatten uns doch zu unserer Feier diesen japanischen Whisky serviert. Gibt es den hier auch“ fragte Frieder Bergmann.
„Natürlich“ antwortete Nguyễn Văn Dũng lächelnd „ich musste unseren Sommelier nicht lange bitten ihn in die Karte aufzunehmen, er ist von dem Whisky auch begeistert.“
„Dem kann ich nur zustimmen“ fuhr der Sommelier fort „ein absolutes Spitzengetränk. Dieses sanfte Rauchige bekommen selbst die Irländer oder Schotten nicht hin, dieser Whisky ist ein Gedicht. Farbe, Nase, Geschmack gehen eine perfekte Symbiose ein.“
„Den probieren wir doch mal aus“ rief Peter Petersen aus „heute ist genau der richtige Tag dafür. Eine Runde für die Männer!“
Herbert Büchsenschuss drehte das Whiskyglas unschlüssig in den Händen. Sein Gedächtnis hatte zu dem Whisky folgendes abgespeichert: Alkoholgehalt 47 Prozent, Preis für 2 cl 16 Euro 75 Cent.
„Auf unser aller Wohl“ hörte er wieder, diesmal hatte Hannelore Petersen das Wort ergriffen „und auf Frieder und Peter, meinen Bräutigam!“
Der Duft des Whiskys stieg Büchsenschuss in die Nase und er war von der Intensität vollkommen überrascht. Der erste Schuck beförderte etwas von dem Getränk an seinen Gaumen und tatsächlich schmeckte er eine wundervolle Kombination aus verschiedenen, aber für ihn nicht zu deutenden Bestandteilen. Vielleicht sollte ich doch ab und zu nach dem täglichen Stress einen kleinen Schnaps trinken sagte sich Büchsenschuss, nachdem er das Glas geleert hatte. Eine heitere Stimmung breitete sich in ihm aus und ein Lächeln trat auf sein Gesicht.
„Ich schlage Ihnen, meine sehr verehrten Gäste, heute eine ganz besondere Überraschung vor“ hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung jetzt sagen „nämlich die Verkostung unseres besten Grappas. Selbstverständlich geht das aufs Haus. Ich selbst werde jetzt eine Flasche davon aus unserem Giftschrank (jetzt kicherte er) holen, der Grappa ist sündhaft teuer und nur ich besitze den Schlüssel zu dem Schrank. Ich bin gleich wieder da. Genießen Sie inzwischen den nächsten Gang.“
Herbert Büchsenschuss verließ den Raum beschwingt und mit ausgreifenden Schritten. Sein seit einiger Zeit schmerzendes Knie (wegen dem vielen Stehen tagsüber) meldete sich momentan nicht. Diejenigen seiner Angestellten, denen er auf seinem Weg begegnete, grinste er an und wechselte ein paar freundliche Worte mit ihnen. Am Giftschrank angekommen – dieser befand sich in einem separaten Raum im Kellergeschoss - nahm er die Flasche mit dem Grappa heraus. Büchsenschuss hielt sie unter Verschluss, denn 2 cl kosteten sagenhafte 23 Euro 65 Cent. Demzufolge wurde eine Flasche an einem Abend nie leer und er sah, dass noch gut die Hälfte des Schnapses vorhanden war. Eine weitere, noch volle, stand hinten im Schrank. Büchsenschuss hatte die Tür des Raumes geschlossen. Dann öffnete er die Grappa Flasche und setzte sie in Ermangelung eines Glases an den Mund an. Er wollte eigentlich nur einen winzigen Schluck kosten, aber hatte die Flasche zu steil angesetzt, so dass jetzt ein erheblicher Teil des Grappas in seinen Rachen schwappte.
Dieses teure Getränk auszuspucken kam nicht in Frage und so ließ er den Grappa in seine Speiseröhre laufen. Nach seiner Schätzung waren es gut 5 cl gewesen. Herbert Büchsenschuss wurde schlagartig bewusst, dass er soeben Grappa im Wert von mehr als 100 Euro getrunken hatte. Na und, sagte er sich fröhlich, die ganzen Jahre habe ich an allem geknausert, heute will ich mit dem Ministerpräsidenten feiern. Er trank noch vielleicht 3 cl nach, verließ den Raum und bewegte sich wieder zu seinen Gästen. Diese hatten gerade den vierten Gang gegessen.
Als Herbert Büchsenschuss mit der Flasche in der Hand erschien wurde er lautstark begrüßt.
„Na endlich“ rief Peter Petersen „hier ist mächtig trockene Luft drin. Wird Zeit, dass wir wieder mal was zu uns nehmen.“
„Ich bin schon da“ lachte der Direktor „hier kommt die Wunderwaffe. 30 Jahre alter Grappa aus Siglizione, nein aus Ziglisione oder Giglizione, ist doch egal.“
„Stimmt“ bestätigte Frieder Bergmann „Hauptsache, der dreht!“
„He, den wollen wir aber auch mal kosten“ meldete sich Paula zu Wort „warum sollen den bloß die Männer trinken.“
„Richtig“ sagte Claudia.
„Alles kein Problem“ erwiderte Herbert Büchsenschuss und schenkte allen persönlich ein (auch Nguyễn Văn Dũng und dem Sommelier), dann feixte er und sagte:
„Ich hab‘ nämlich noch Reserven. Weiß aber keiner außer mir.“
Der sonst so untadelig auftretende und asketisch lebende Direktor hatte mittlerweile einiges an Alkohol in seiner Blutbahn und fühlte sich ganz hervorragend. Sein Blick hatte sich geschärft, jegliche Anspannung war verschwunden und er plierte unauffällig zu Paula und Claudia hin, speziell auf deren beachtliche Oberweiten. Vielleicht sollte ich manche Dinge lockerer angehen sagte er sich, meine Leute nicht mehr so hart wegen Kleinigkeiten ansprechen, entspannter auftreten und auch mal kleine Fehler zulassen. Schließlich sind wir ja alle nur Menschen mit unseren Stärken und Schwächen und keine Roboter. Als eine Kellnerin beim Abräumen des Geschirrs eine Gabel fallen ließ stand sie schockstarr einen Moment herum und erwartete das übliche Donnerwetter.
„Sehen Sie sich beim nächsten Mal einfach etwas mehr vor“ sagte Büchsenschuss sanft zu ihr und hob die Gabel selbst auf.
„Kann schon mal vorkommen“ fuhr er noch fort „also bitte, demnächst mehr Obacht.“
„Na sehen Sie“ meinte Hannelore Petersen „Sie können doch ausgesprochen pädagogisch handeln, warum nicht gleich so. Auf diesem Wege kommt man doch weiter als gleich auszurasten.“
„Ich möchte bemerken, dass Ihre Anwesenheit und das, was Sie mir anfangs sagten, bei mir tiefes Nachdenken ausgelöst hat“ antwortete Herbert Büchsenschuss mit schon unsicherer Aussprache und Tränen traten in seine Augen „irgendwie haben Sie mir heute die Augen geöffnet und wenn ich es mir recht überlege, bin ich mein ganzes Leben lang einer Chimäre hinterhergejagt. Ich wollte immer höher hinauf und immer besser als die anderen sein. Das werden Sie, Herr Ministerpräsident, sicher gut verstehen können.“
Frieder Bergmann nickte stumm, Büchsenschuss schenkte nochmals nach und fuhr fort.
„Welchen Preis habe ich dafür bezahlt? Ja, Frauen waren mir nicht korrekt genug und zu geschwätzig, eine Familie hätte meine Kariere nur gestört. Und ich habe mich immer widerstandslos meinen Vorgesetzten gefügt, musste die Kastanien aus dem Feuer holen, dort wo es gerade mal wieder irgendwo auf der Welt in einem unserer Hotels brannte. Klar habe ich die Läden wieder auf Kurs gebracht, aber dann musste ich schon wieder weiterziehen, um wieder in die Scheiße hinein zu tauchen. Wo die Kacke am Dampfen war, dort war Herbert Büchsenschuss.“
Der Direktor goss sich nach, fischte aus seiner teuren Jackettasche den Schlüssel zum Giftschrank heraus und gab ihn dem Sommelier.
„Holen Sie mal bitte die zweite Flasche, die bezahle ich selbst.“
„Ich war in New York, Hongkong, Mailand, Kapstadt, Moskau, Tokio, Amsterdam, Sydney, Kuala Lumpur, Bogota und Paris“ setzte der Direktor seinen Monolog leicht schwankend fort als der Sommelier gegangen war „und was habe ich von diesen Städte gesehen? Nichts! Ich war 7 Tage in der Woche im Hotel. Dienstwohnung, Kleidergeld, kostenlose Verpflegung, ich hatte keinerlei Ausgaben. Dafür bin ich von früh bis abends auf der Suche nach Fehlern meiner Leute vom Keller bis zum Boden unterwegs gewesen und bin fündig geworden. Der Laden lief dann zwar wieder gut, aber ich hatte ihm mit den kleinen Unzulänglichkeiten die Seele genommen. Alles war perfekt, aber leblos geworden.“
Читать дальше