Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie an ihrem Outfit für den Abend gesessen. Caro hatte ihr tapfer Gesellschaft geleistet und war nun sehr stolz auf ihre Freundin. Die Nachtarbeit hatte sich gelohnt: Steffis langer Rock aus petrolfarbener, glänzender Seide hing am Kleiderschrank bereit. Eine passende Korsage hatte sie in mühevoller Kleinarbeit mit winzigen Blüten in Türkis und Orange bestickt. Der Türkis-Ton wiederholte sich großflächig in einer Seidenstola, die Steffi in der vergangenen Nacht mit einigen Streifen aus orangefarbenem Kunstfell durchsetzt hatte. Gegen ein Uhr war das Ensemble schließlich bis auf das dazugehörige Stofftäschchen fertig gewesen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Steffi kurz überlegt, ob sie auf das Accessoire verzichten sollte. Wirklich komplett, befand sie jedoch, war das Ensemble erst mit genau dieser Tasche. Und so hatte sie nach kurzer Überlegung beschlossen, weniger Schlaf in Kauf zu nehmen, das Stofftäschchen mit ebensolchen Blüten zu besticken, wie sie die Korsage schmückten, und dafür in kompromisslosem Outfit zu ihrer Feier zu erscheinen.
Caro folgte ihr in die Wohnküche mit den drei alten Küchenschränken verschiedener Höhe und Breite in Dunkelblau, Hellblau und Türkis. Sie waren nebeneinander an der Wand aufgereiht, wo sie wirkten, als habe Steffi sie aus Bauklötzen zusammengesetzt. Die Morgensonne brachte das Grün einer Tischdecke zum Leuchten, unter der sich ein runder Esstisch verbarg. Momentan lebte Steffi in ihrer blau-grünen Periode. Deshalb trug sie zur Zeit eine hellblaue Farbsträhne in ihrem strubbeligen Kurzhaarschnitt, und Caro war gespannt, was Steffi auf der Feier damit machen würde, denn der Farbton vertrug sich nicht mit dem Petrol-Orange der abendlichen Garderobe. Möglicherweise schnitt sie die Strähne einfach aus dem schwarzen Haar heraus.
»Lass uns bei Jacques frühstücken gehen«, schlug Steffi vor. »Zur Feier des Tages werde ich über die Stränge schlagen. Wenn schon müde, dann wenigstens satt und müde.«
Caro war einverstanden. Ihr selbst tat es gut, ein fettes Toastbrot mit Schinken und Käse zu sich nehmen, denn es fiel ihr schwerer, ein paar Pfunde zu- als abzunehmen. Aber wenn Steffi sich dazu entschloss, den Morgen mit einer üppigen Mahlzeit zu beginnen, dann hieß das »Ausnahmezustand«.
Nach dem Frühstück trennten sich Steffis und Caros Wege. Steffi begab sich zur Vorbereitung der abendlichen Feier in ihr Atelier, und Caro ging zurück in Steffis Wohnung. Sie hatte ihr versprochen, dort mit dem Schlüssel auf Matthias zu warten, der zur Feier seiner Schwester aus München anreiste.
Caro mochte ihn nicht und sah den jungen Anwalt im Geiste schon wie seinen Vater hinter dem größten Schreibtisch einer Notariatskanzlei sitzen. Nach Meinung der Familie schlug Steffi ärgerlicherweise aus der Art. Dabei hätten die Eltern wirklich allen Grund, auf ihre Tochter stolz zu sein: Ein abgeschlossenes Modedesign-Studium und nun die Eröffnung ihres eigenen Ateliers. Aber noch immer konnten sie nicht vergessen, dass sie nach der Schule partout ein Praktikum bei einer Maßschneiderin hatte machen wollen, anstatt an dem Auswahlverfahren für Harvard teilzunehmen, das sie ihr mit Nachdruck empfohlen hatten. Erst Matthias hatte ihnen vier Jahre später diesen Herzenswunsch erfüllt.
Caro fand es empörend, dass sie Steffi die Anerkennung vorenthielten, die sie so offensichtlich verdiente. Und als sie jetzt an Steffis Eltern dachte und daran, wie sie die kreative Energie ihrer Tochter bis heute belächelten, entwickelten Caros Hände plötzlich ein Eigenleben. Sie griff blindlings auf Steffis Tisch, ihre Hand erwischte einen Graphitstift, und Caro konnte im letzten Moment verhindern, dass sie ihn auf den Boden schleuderte.
Glücklicherweise, beruhigte sie sich, dachte Steffi gar nicht daran, sich von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sobald ihr Vater oder ihre Mutter ihr einen Plan madig machten, beendete sie das Telefongespräch oder verließ den Raum, entzog sich sofort der weiteren Einflussnahme und machte umso konsequenter das, was ihr richtig erschien. Aber eingeladen, ärgerte sich Caro, hatte Steffi ihre Familie trotzdem.
Es klingelte an Steffis Haustür. Caros Finger umklammerten noch immer den Graphitstift, und sie öffnete die Tür mit der freien Hand. Sie roch eine Molekülmischung aus teurem Aftershave und Treppenhausmoder. Im selben Moment blickte sie in Matthias’ Gleitsichtbrille und registrierte dieses halb belustigte Aufblitzen seiner Augen, das sich angesichts der Wohnsituation seiner Schwester einstellte. Caro umschloss den Graphitstift fest mit ihren Fingern.
»Einen wunderschönen guten Tag«, schmetterte Matthias, musterte sie von oben bis unten und fügte in einem kindlichen Tonfall hinzu, der so gar nicht zu seinen zweiunddreißig Jahren passen wollte: »Oho, welch apartes Armeehemd! Aus deinem vorigen Leben als Soldat?« Begeistert von seinem eigenen Scherz, fügte er wimmernd hinzu: »Aber bitte, bitte, Caro, nicht schießen, bitte tu mir nichts!«
Caro nahm sich vor, nur das Minimum an Smalltalk mit ihm zu machen, bevor sie ihm Steffis Schlüssel aushändigen und verschwinden würde.
»Komm rein«, sagte sie tonlos und ging voran über den Korridor. Der smarte Jurist betrat mit eingezogenem Kopf die Küche, als fürchte er, jeden Moment ein abgebröckeltes Stück Putz auf den Kopf zu bekommen. Plötzlich starrte er auf Steffis selbstbemalte Frühstücksteller, die sie in einem Hängeregal ausstellte, und griff sich ein Exemplar, um dessen Unterseite zu betrachten.
»Nun guck sich das einer an. KPM. Der ist unter Garantie von unserer Großmutter. Das war doch vorher ein prima Teller. Und was macht mein Schwesterherz? Verhunzt das gute Stück.« Caro betrachtete den wunderschönen Oktopus mit seinen schillernden Saugnäpfen, der zur Serie von Steffis Meerestieren in grün und blau gehörte. »Ich kann das einfach nicht verstehen«, fuhr Matthias fort. »Ich würde gern begreifen, wie man gebaut sein muss, um das Produkt einer anerkannten Firma ein für allemal mit aufgepinselten Frutti di mare zu verderben.«
»Knack«, sagte es, und der Grafitstift in Caros Hand war zerbrochen. Überrascht registrierte sie, dass dies einer jener Zerstörungsakte war, die ihr früher so zahlreich, nun aber schon lange nicht mehr unterlaufen waren. Der Schaden, beruhigte sie sich, hielt sich in Grenzen, ein kleiner Grafitstift, dessen Verlust Steffi leicht verschmerzen würde, aber dennoch. Er war ein Anklang an vergangene Zeiten, in denen vieles zu Bruch gegangen war, und Caro legte die beiden Teile des Stiftes schnell auf den Tisch, als müsse sie sich von ihrem unheilvollen Einfluss befreien, bevor sie zu Matthias sagte:
»Mit Geschirr ist es wie mit Mode, Möbeln und Musik. Spießer kommen nur mit Konfektionsware klar.« Und damit langte sie in die Beintasche ihrer Cargohose, aus der sie Steffis Schlüsselbund zog und vor Matthias auf den Tisch warf. »Bis heute Abend. Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«
Während sie an Matthias vorbei Richtung Flur ging, fing sie einen Blick von ihm auf, der sie an irgendetwas erinnerte. An irgendjemanden. Es war der Blick einer Person, die alles, was Caro tat, vollkommen unpassend und schlichtweg unmöglich fand. Ja, es war derselbe Blick, den sie von ihrer Schwester Petra kannte. Dieser Blick, der sie getroffen hatte, wann immer sie ihr auf dem Schulhof oder vor dem Zeitschriften-Kiosk über den Weg gelaufen war. Diese leicht angeekelte, zweifelnde Miene in Petras Gesicht. Ungläubig und vorwurfsvoll zugleich, als könne sie nicht verstehen und verlange eine Erklärung dafür, aus welchem Grund sie mit solch einer Schwester wie Caro gestraft sei.
Solch einer »Hexe«, wie Petra sie zu nennen pflegte. Nicht nur hatte die Schwester ihr dieses Wort hinterhergeschrien, immer und immer wieder, nein, eines Tages hatte sie sich das Taschenmesser des Vaters ausgeliehen und die Gleichung CARO=HEXE in die Rinde der Baumstämme geritzt, an denen Caro Tag für Tag auf ihrem Weg zur Schule vorbeikam.
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