Kirsten Döbler - Im Licht der Weißen Nacht

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In den Geschichten «Sommergarten», «Weiße Nacht», «Kukolka», «Russian Reds» und «Die Liste» lernen die Leserinnen und Leser ein St. Petersburg en miniature kennen, das sich dem fremden Auge als facettenreiche und überraschende Welt erschließt.

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Kirsten Döbler

Im Licht der Weißen Nacht

St. Petersburg-Geschichten

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Inhaltsverzeichnis Titel Kirsten Döbler Im Licht der Weißen Nacht St - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Kirsten Döbler Im Licht der Weißen Nacht St. Petersburg-Geschichten Dieses ebook wurde erstellt bei

Sommergarten

Weiße Nacht

Kukolka

Russian Reds

Die Liste

Impressum neobooks

Sommergarten

»Ruf an, sobald du im Hotel bist«, sagte Borja und stellte den Samowar, den er mir am Abend geschenkt hatte, neben mich auf den Rücksitz des Taxis. Er beugte sich zu mir herunter, küsste mich zum Abschied und musterte kurz den regungslos nach vorn starrenden Fahrer. »Ich hab mir Ihre Autonummer notiert«, rief er ihm zu. Der Fahrer antwortete nicht. »Also ruf an«, wiederholte Borja und warf die Autotür zu.

Der Fahrer stieß einen langen Fluch aus, bevor er seinen bulligen Oberkörper über den Beifahrersitz beugte, die Wagentür öffnete und brüllte:

»Fester, zum Teufel!«

Borja knallte meine Tür nochmals zu, fasste nach und klopfte als Bestätigung auf das Dach des Wolgas. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich schaute zurück und sah Borja hinter den Schlieren der Heckscheibe in einer Landschaft aus Plattenbauten rasch kleiner werden. Im Taxi roch es nach kaltem Rauch und Werkstatt. Es war vier Uhr am Morgen. Neuschnee bedeckte die Asphaltdecke, und im Lichtkegel der Scheinwerfer stürzten unzählige Flocken auf die Windschutzscheibe zu, wo sie von einem klapprigen Scheibenwischer mühsam zur Seite geschoben wurden.

Der fremde Mann vor mir klammerte sich an sein Lenkrad, das er ruhelos von links nach rechts, von rechts nach links bewegte, als wolle er es durch stetes Ruckeln aus seiner Verankerung herauslösen. Trotzdem geriet der Wolga in einer Kurve ins Schlittern und rutschte seitlich über die Fahrbahn, bis er mit den Rädern gegen einen hohen Kantstein prallte. Abermals stieß der Fahrer einen handfesten Fluch aus.

Während er den Wagen vorsichtig wieder in Bewegung setzte, fiel mir die Carrera-Bahn meiner Kindheit ein, in der jeder aus der Spur gesprungene Wagen beim erneuten Aufsetzen und Anfahren einen unendlich lang erscheinenden Moment der Trägheit überwinden musste, der mir stets die Gewissheit gab, der Gegner werde mich nun zweifelsfrei besiegen.

Die Fahrt ging weiter durch den schwarzen Morgen. Schon lagen die Plattenbauten der Peripherie hinter uns. Wir bogen links ab, rutschten rechts um die Ecke, fuhren kilometerweit geradeaus durch die Finsternis, die ganze Stadtviertel verschluckt zu haben schien. Wohnhäuser waren nicht mehr zu erkennen. Lediglich hohe Mauern ließen sich vereinzelt ausmachen, eine Fabrik oder ein Lager, kümmerlich erhellt von gelbstichigen Lämpchen. Stimmte die Richtung? Fuhren wir ins Stadtzentrum?

Ich starrte durch die Windschutzscheibe und verfolgte hartnäckig den Sturzflug der angestrahlten Kristalle, bis mir schwindelig wurde. Obwohl weit und breit nichts und niemand zu sehen war, rollte der Wagen plötzlich langsamer, und ich klammerte mich an dem Karton meines Samowars fest. Der Fahrer sah mich im Rückspiegel an, und da ich nicht wusste, wohin ich blicken sollte, fixierte ich seinen hochgeschlagenen Kragen.

»Woher sind Sie?«, fragte er und bremste ab.

»Aus Hamburg.« Ich überlegte angestrengt, doch mir fiel partout nichts ein, das meinem Chauffeur hätte Furchtlosigkeit vorspiegeln können. Er brummte etwas, das ich nicht verstand, und mit einem Mal federte ich auf meinem Sitz auf und ab wie auf einem Trampolin. Ich prallte mit dem Kopf gegen das Wagendach, und als ich ausgeschaukelt hatte, beschleunigte der Fahrer erneut. Erleichtert begriff ich, dass wir nur einen Bahnübergang passiert hatten.

Bald fuhren wir unter einer Überführung hindurch, und jenseits der Brücke meinte ich wieder Häuser durch die tanzenden Flocken hindurch zu erahnen. Ja, dunkle Blocks, die jetzt näher an die Straße heranrückten. Straßenlaternen, die mir sagten, hier gab es Menschen, wozu denn sonst das Licht, Menschen, die jetzt schliefen, aber sicherlich nicht alle, niemals alle, in St. Petersburg doch nicht, immer war dort jemand wach, arbeitete Schicht oder feierte mit Freunden bis zum Morgen, und ich beruhigte mich etwas.

Völlig unerwartet bog der Fahrer in eine Nebenstraße ein. Sie war eigentlich nicht einmal Straße zu nennen, diese düstere Gasse, die an beiden Seiten von lichtlosen Häuserblocks gesäumt wurde. Die maroden Stoßdämpfer des Wolgas ließen jedes Schlagloch, das hier unter der Schneedecke lauerte, hart in meine Wirbelsäule fahren. Zwei Gedanken stritten in meinem Kopf um die Vorherrschaft: Altbauten bedeuteten Stadtzentrum. Doch warum diese Gasse?

Der Fahrer bremste vor einer Toreinfahrt ab, fuhr auf einen stockfinsteren Hinterhof und hielt an.

»Moment«, sagte er und sprang aus dem Wagen, dessen Motor weiterlief, während die Scheinwerfer das schmutzige Ocker einer Häuserwand erleuchteten. Ein abgerissenes Kabel, das aus einem Fenster hing, schlug mit jedem Windstoß ans Mauerwerk und erinnerte mich an alte Kriminalfilme in Schwarz-Weiß, in denen im entscheidenden Moment die Telefonleitung als einzige Verbindung zur Außenwelt gekappt wurde. Ich beobachtete, wie der Fahrer im Lichtkegel der Scheinwerfer auftauchte und sich mit gesenktem Kopf durch die wirbelnden Flocken kämpfte, bis er im nächstgelegenen Hauseingang verschwand.

Die Tür schlug hinter ihm zu, und ich verharrte geduckt auf dem Rücksitz, spürte meinen Herzschlag bis ins Zahnfleisch. Wie weit käme ich auf meinen hohen Absätzen? Auf diesem glatten Untergrund? Sollte ich die Stiefel ausziehen und auf Strümpfen laufen? Zurück durch die Toreinfahrt, hinaus auf die dunkle Gasse, in Richtung der Straße mit den rettenden Laternen?

Unschlüssig zerrte ich den Reißverschluss meines Wintermantels mehrmals auf und zu, bevor ich endlich wie in Zeitlupe aus dem Wolga stieg und die eisige Schneedecke unter meinen Ledersohlen spürte. Gleichzeitig hörte ich eine Tür klappen, und schon kam der Fahrer wieder auf seinen Wagen zu. Im Scheinwerferlicht erkannte ich, dass er etwas in der Hand hielt, etwas Flaches in einer Plastiktüte. Er riss die Fahrertür auf, während er zu mir sagte:

»Sie werden sich erkälten.«

Ich war unfähig, mich zu rühren, verharrte neben dem Wagen und wunderte mich, dass ich wahrnahm, wie sehr die dicken Flocken mich an der Nase kitzelten. Im Karree des Hinterhofs weichte das Leder meiner Stiefel langsam durch.

»Steigen Sie ein«, rief der Fahrer mir zu. Ich gehorchte, und als ich wieder auf dem Trampolin schaukelte, drehte sich der Mann zu mir um und reichte mir die Plastiktüte nach hinten. »Frohes Neues Jahr«, sagte er und fuhr los.

»Frohes Neues Jahr«, antwortete ich ohne nachzudenken. Ich fasste in die Tüte und ertastete einen Kasten, umhüllt mit Cellophan. Unwillkürlich hielt ich mir die Schachtel vor die Nase. Ein Duft von Vanillin entströmte der Verpackung, und beinahe meinte ich Pralinen mit einem Überzug aus Bitterschokolade auf der Zunge schmecken zu können.

Als wir die Toreinfahrt passiert und die dunkle Gasse hinter uns gelassen hatten, wieder auf der laternengesäumten Straße fuhren, wurde es jeweils im Abstand einiger Sekunden so hell im Wageninneren, dass ich die geschwungene Schrift auf dem Pappdeckel lesen konnte. »Sommergarten« war der Name des süßen Assortiments.

Ich blickte auf die abgebildeten Skulpturen und das goldverzierte Gitter des St. Petersburger Park-Ensembles, dem die Pralinenschachtel ihren Namen zu verdanken hatte. Tränen quollen mir aus den Augen, und ich konnte in diesem Moment nur an eines denken, hatte nichts außer diesem einen Bild vor Augen: wie ich meine kalten Füße, diese gefühllosen, nassen Zehen, die in meinen Lederstiefeln steckten, in gewiss nicht ferner Zukunft in jenem Sommergarten der Zaren barfuß in die Sonne halten würde.

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