„Achtung. Eine dringende Durchsage.“, tönte plötzlich eine Frauenstimme, offenbar durch ein Megaphon verstärkt, durch die Fabrikhalle.
„Was denn, eine neue Sekretärin? Was ist denn mit Molly?“, fragte Smitty verwundert und schaute sich in der Halle um, in dem Versuch, den Ursprung der Durchsage zu erspähen.
„Greg aus der Schweißerwerkstatt soll bitte umgehend in Mister Fingreys Büro kommen!“, schallte die Stimme erneut durch die Werkhalle.
Greg schaute verdutzt zu Smitty, der nicht weniger erschrocken zurückstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Warum wollte Fingrey ihn sprechen? Hatte Brown dem Chef etwa doch etwas von seinem Patzer letzte Woche erzählt?
„Herrje. Direkt zum Chef. Das ist aber sehr ungewöhnlich!“ Smitty kratzte sich am Kopf und blickte Greg besorgt an. „Ich hoffe, das gibt keinen Ärger. Du hast doch nichts ausgefressen, oder?“
In Gregs Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Jesua Fingrey ihn persönlich in seinem Büro sehen wollte.
Wie in Trance schüttelte er den Kopf. „Nein. Wirklich nicht. Ob es wegen der falschen Flamme letzte Woche ist?“
Smitty schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Wegen so einer Lappalie bemüht sich der Chef nicht. Das würden die Vorarbeiter erledigen. Und außerdem glaube ich nicht, dass Brown etwas erzählt hat. Er hat ein loses Mundwerk, das wohl, aber ein Herz aus Gold. Und dich hat er ins Herz geschlossen, das kannst du mir glauben.“ Bei diesen Worten deutete er mit dem Zeigefinger so entschieden auf Greg, dass der Angst bekam, gleich aufgespießt zu werden.
„Aber was kann er dann von mir wollen?“
Smitty zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Und du wirst es nicht herausfinden, indem du noch länger hier herumstehst und Maulaffen feil hältst. Los, mach dich auf den Weg!“, rief er und scheuchte Greg mit eindeutigen Handbewegungen davon. „Ich kümmere mich schon um die Ausrüstung.“, setzte er hinzu, als er Gregs zweifelnden Blick auf den Wagen bemerkte. Seinen Mund hatte er zu einem breiten Lächeln verzogen, doch es gelang ihm nicht, Greg zu täuschen. Aus seinen Augen sprach eine tiefe Besorgnis. „Los jetzt! Lass den alten Herrn nicht warten!“
Greg machte auf dem Absatz kehrt und stürmte durch die Werkhalle. Smitty hatte Recht. Egal, was Fingrey von ihm wollte, es war sicher keine gute Idee, den Firmeninhaber durch Bummelei noch mehr in Rage zu versetzen. Während er an den Arbeitern, die an seinen geliebten Dieselmotoren in den unterschiedlichsten Fertigungszuständen herumwerkelten, vorbeihastete, grübelte er weiter nach, was der Grund für diese ungewöhnliche Vorladung sein konnte. In der Tat hatte er in den immerhin fünf Monaten in der Fabrik kein einziges Mal erlebt, dass einer seiner Kollegen über ein Megaphon zu Mister Fingrey bestellt worden war.
Auch, als er an der Tür mit der großen verschnörkelten Aufschrift „Jesua Fingrey, Inhaber“, angelangt war, hatte sich seine Verwirrung kein Stück gelegt. Zögerlich klopfte er an, aber eine Antwort blieb aus. Er gab sich einen Ruck und klopfte diesmal fester gegen die schwere Holztür. Wieder wartete er einige Sekunden, aber niemand forderte ihn auf, einzutreten. Greg ging verwundert ins benachbarten Büro von Molly, Jesua Fingreys uralter Sekretärin. Hier stand die Tür offen, aber weder Molly noch die neue Sekretärin, die ihn ausgerufen hatte, waren zu sehen.
Greg bemerkte, dass die Verbindungstür vom Vorzimmer zu Fingreys Büro nur angelehnt war. Er schob sie vorsichtig auf und blickte sich im Büro des Fabrikbesitzers um. Der Raum versprühte den Charme von Arbeit. Von viel Arbeit, um genau zu sein. Die Wände waren bis unter die Decke mit Regalen vollgestellt, in denen sich Papierstapel, Bücher und Ordner drängten. Ein schwerer, aus edlem Holz gefertigter Schreibtisch mit Schubfächern bog sich fast unter der Last zahlloser Dokumente, die sich auf ihm stapelten. Mister Fingrey saß in einem großen ledernen Ohrensessel, halb mit dem Rücken zu Greg. Er schien offenbar vertieft in ein Schriftstück, das er in der Hand hielt, so vertieft, dass er weder das Klopfen gehört hatte, noch auf Gregs Schritte reagierte, als der nun vorsichtig zum Schreibtisch schlich.
„Mister Fingrey?“ Greg räusperte sich unbeholfen. Es war ihm unangenehm, wie ein gemeiner Dieb in das Büro des Firmeninhabers zu schleichen, aber er wollte Jesua Fingrey auch nicht erschrecken. „Sie hatten mich rufen lassen?“ Wenn er auf eine Reaktion des Firmeninhabers gewartet hatte, wurde Greg enttäuscht. Fingrey saß weiter seelenruhig in seinem Sessel und schien gewillt zu sein, sich von keinem Vorkommnis welcher Art auch immer von seiner Lektüre abbringen zu lassen.
Greg war neben dem Schreibtisch angekommen. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass etwas in dem Raum nicht stimmte. Die Standuhr in der Ecke tickte übermäßig laut, alle anderen Geräusche, die man an einem Arbeitstag im Büro eines so bedeutenden und viel beschäftigten Mannes erwartet hätte, waren dagegen kaum zu vernehmen. Von Mister Fingrey im Besonderen ging eine gespenstische Stille aus.
Greg warf einen nervösen Blick auf den Mann in dem Ohrensessel und erstarrte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Schrei, der sich aus seiner Kehle Bahn brechen wollte, zu unterdrücken. Entgeistert starrte er Jesua Fingrey an. Der reiche Fabrikant saß in seinem Anzug da, den Blick auf einen Brief gerichtet, aber keine Bewegung ging von seinem Körper aus. Noch nicht einmal der Brustkorb hob und senkte sich. Eine klaffende Wunde am Hals machte Greg klar, dass sich Mister Fingreys Lungen nie wieder mit Luft füllen würden.
Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte Fingrey ihn rufen lassen und war dann plötzlich tot? Das ergab doch keinen Sinn!
Plötzlich öffnete sich die Bürotür hinter Greg, der, unfähig sich zu bewegen, einfach nur dastand und den Blick nicht von dem Toten wenden konnte. Die Schritte hinter ihm verharrten in der Bewegung. „Herrje.“, raunte eine kratzige Stimme, die Greg entfernt vertraut vorkam. „Was ist denn hier passiert?“
„Achtung, eine weitere Durchsage.“, vernahm Greg wie aus weiter Ferne erneut die Frauenstimme aus dem Megaphon. „Alle Vorarbeiter mögen sich bitte umgehend bei Mister Fingrey einfinden.“
„Bei allen Heiligen!“, knurrte der Mann in Gregs Rücken. „Greg?“
Der Ausruf seines Namens wirkte auf Greg, als hätte ihm jemand am frühen Morgen einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet. Ruckartig drehte er sich um und starrte den Mann an, der ihn in dieser kompromittierenden Situation überrascht hatte. Er war nicht viel größer als Greg, aber seiner Körperform nach zu urteilen sicher doppelt so schwer. Wollmantel, Tuchhose, Stiefel und Schiebermütze in Schwarz- und Grautönen gaben ihm den typisch verlotterten Ausdruck eines Mannes, der viel zu lange für wenig Geld in den Rauch spuckenden Fabrikhallen des Ostviertels gearbeitet hatte. Ungewaschene graue Haarsträhnen fielen über seine rechte Gesichtshälfte und verdeckten ein Metallgerüst, dass sich um das rechte Auge rankte. „Nick?“, fragte Greg entgeistert, als er den alten Mann erkannt hatte.
„Ja, verdammt.“, fluchte der und packte Greg am Arm. „Komm! Wir müssen hier weg. Gleich wimmelt es hier nur so von Leuten.“ Er stürmte aus dem Büro und zerrte den Jungen hinter sich her. Greg ließ diese Behandlung willenlos über sich ergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und war auf dem Weg zu mehreren Erkenntnissen, die alle ein für ihn sehr unangenehmes Ende dieser Sache vorhersagten. Er musste aus der Fabrik heraus. Das war ihm soeben klar geworden. Aber wohin?
Mechanisch liefen seine Füße durch die Fabrik und fanden ihren Weg auch ohne das Zutun seines Kopfes. Er kannte jeden Winkel hier und wusste, wo der schnellste Weg zum Ausgang führte.
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