„Bürger. Es ist schon spät. Es wird Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen. Es kann heute nur darum gehen, ob wir Greg vorläufig Unterschlupf gewähren. Ich schlage vor, dass wir zunächst entscheiden, ob er für drei Tage bei uns bleiben darf. Bis dahin sollte es uns gelungen sein, genauere Informationen einzuholen. Dann können wir unser weiteres Vorgehen besprechen.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich. „Wie üblich bei solch wichtigen Entscheidungen, werden wir das Verfahren des Rösselsprungs anwenden. Diejenigen von euch, die mit Ja stimmen, verlassen das Gemeindehaus durch den Haupteingang, die Gegner des Antrags gehen durch die Seitenpforte.“ Dabei zeigte er auf eine der Türen in der linken Wand, die sogleich von zwei Frauen geöffnet wurde. „Pater Elia und ich werden die Stimmen zählen und dann das Ergebnis verkünden.“
Greg hatte erwartet, dass nun ein wildes Chaos oder Gerangel entstehen würde. Doch die Menschen erhoben sich langsam und gingen in beinahe würdevoller Ruhe auf die beiden Türen zu. Auf beiden Seiten bildeten sich Schlangen von Wartenden. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Greg die Männer und Frauen. Es war auf die Schnelle nicht zu erkennen, welche Seite mehr Anhänger hatte.
Greg spürte einen sanften Zug an seinem rechten Ärmel und schaute sich um. Nici stand neben ihm und strahlte ihn an. „Komm!“, sagte sie freundlich und winkte mit ihrer freien Hand. „Wir gehen auch raus. Dort kannst du dich hinsetzen und verschnaufen.“
Greg fand keinen Grund, der gegen diesen Vorschlag sprechen konnte und ließ sich bereitwillig von Nici und Mav durch eine weitere Tür in die anbrechende Nacht führen. Stan und Mara schlossen sich der kleinen Gruppe an. Sie kamen auf einer Nebenstraße aus dem Gebäude und liefen um eine Ecke zurück auf den großen Platz. Einige der wahlberechtigten Männer und Frauen waren bereits zu der Menge getreten, die draußen der Debatte gelauscht hatte, aber viele schienen noch hinter den Türen darauf zu warten, ihre Stimme abgeben zu können. Erschöpft ließ sich Greg neben Nici und Mav auf den Boden sinken und blickte mit banger Erwartung auf die beiden Türen, durch die die Wähler traten. „Das sind alles unsere Repräsentanten.“, riss ihn Nici aus seinen Gedanken. Sie betonte das letzte Wort mit dem ganzen Stolz eines Kindes, das ein sehr schwieriges Wort gelernt hatte und sich sicher war, etwas zu wissen, was anderen noch fremd war. „Weißt du, es können ja nicht immer alle wählen. Das würde viel zu lange dauern. Darum bestimmt jedes Doppelhaus einen Vertreter, der in den Versammlungen mit abstimmen darf. Jedes Jahr muss es ein neuer sein, damit jeder mal mitmachen darf.“, sagte sie aufgeregt. „Irgendwann bin ich auch dabei.“, warf sie sich in die Brust.
„Aber lange nach mir.“, prahlte Stan.
„Wenn ihr überhaupt alt genug werdet, das zu erleben.“, raunte Mara theatralisch.
Greg sah Nici an, dass sie eine patzige Antwort auf den Lippen hatte, aber Stan legte ihr die Hand auf den Arm. „Psssst! Sie sind fertig.“, flüsterte er.
In der Tat legte sich das aufgeregte Gemurmel auf dem Platz. Alle Köpfe wandten sich in die Richtung des Haupteingangs des Gemeindehauses, vor dem Hanson und Pater Elia standen und sich berieten. Dann hob Pater Elia feierlich die Hände und auch die letzten Gespräche verstummten.
„Wir haben darüber abgestimmt, ob Greg für drei Tage unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen darf. Alle Wahlberechtigten haben das Gebäude verlassen. Das Ergebnis lautet wie folgt. Dafür stimmten 53 Repräsentanten, dagegen 42. Damit stimmt die Versammlung dafür, Greg zunächst Unterschlupf zu gewähren.“
Es gab keinen lauten Jubel und keine Protestrufe. Die Menschen nahmen das Ergebnis mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Greg wunderte sich darüber, da die Debatte doch teilweise sehr hitzig geführt worden war. Zwar kam es ihm so vor, als würden ihm vereinzelt zornige oder angsterfüllte Blicke zugeworfen, der größte Teil der Menschen auf dem Platz schien aber keine Notiz von ihm zu nehmen. Die meisten Frauen und Männer verließen mit zügigen Schritten den Platz, wohl um in der Dämmerung die letzten Reste des Tageslichts zu nutzen, nach Hause zu gelangen. Die Menge zerstreute sich und bald schon verloren sich die vereinzelten Grüppchen, die noch auf dem großen Platz standen, in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Eine schwere Hand legte sich auf Gregs Schulter. Er schreckte hoch und blickte in Hansons freundliches Gesicht. „So, Greg, jetzt kannst du erstmal ein bisschen ausruhen. Wir müssen uns dringend um dein Auge kümmern.“ Die Anstrengungen des Tages und die großen Schmerzen forderten nun, da sich Greg erst einmal in Sicherheit wiegen konnte, mit aller Macht ihren Tribut. Greg fühlte, wie sich eine bleierne Schwere seiner Glieder bemächtigte und es wurde schwarz vor seinen Augen.
X
Greg versuchte, im nur von wenigen Fackeln erleuchteten Zwielicht der Nacht etwas zu erkennen. Ein schabendes Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, da war er sich ganz sicher. Doch so sehr er auch lauschte, kein weiterer Laut war zu vernehmen. Es war bitterkalt. Sein nur mit einer dünnen Wolldecke geschützter Körper zitterte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Ob das Zittern nur von der Kälte kam? Da war es wieder, dieses Schaben, so als würde Eisen auf Eisen entlanggezogen. Näher diesmal, aber immer noch konnte er keine Bewegung ausmachen. Er schaute sich in seiner näheren Umgebung um. Offenbar hatte man ihn in einen grob gezimmerten offenen Verschlag gelegt, der am Tag eine gute Sicht auf eine der Straßen ermöglichte, doch jetzt, in der Nacht, konnte Greg kaum zehn Schritte weit sehen. Umso mehr war er auf sein Gehör angewiesen. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit, konnte aber keinen Laut ausmachen. Es war geradezu gespenstisch still. Die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, spürte er eine neue Kältewelle durch seinen Körper rollen. Das Zittern breitete sich von seinem Bauch durch den ganzen Körper aus. Greg musste die Augen schließen, als die Kältewelle durch seinen Kopf fegte. Gerade, als er sie wieder öffnete, spürte er den Hauch eines Atems in seinem Gesicht. Eine schrecklich verzerrte Fratze beugte sich über ihn und direkt hinter der Kreatur war wieder dieses schabende Geräusch zu hören. Jedes rationale Denken war unmöglich, stattdessen übernahmen Gregs Instinkte das Kommando. Mit einem markerschütternden Schrei riss Greg die Arme hoch und versuchte, die Fratze von sich zu schieben.
Das nächste, was er spürte, waren mehrere Hände, die sich um seine Arme und Beine krallten und ihn daran hinderten, um sich zu schlagen. Wütend wollte er all seine Kräfte einsetzen, doch plötzlich wurde ihm bewusst, dass diese Empfindung völlig anders war, als das Schaben und Kratzen der Kreatur. Mühsam zwang er sich, ruhig zu atmen, entspannte Arme und Beine und öffnete die Augen.
„Gott sei Dank. Er wird wach.“, hörte er eine Mädchenstimme sagen.
„Ich dachte schon, er will uns alle windelweich schlagen.“, brummte eine Jungenstimme, die ihm merkwürdig bekannt vorkam.
„Gegen wen er wohl in seinem Traum gekämpft hat?“, fragte eine weitere Mädchenstimme, die eindeutig Nici gehörte. Nici? Langsam setzten sich die Bilder des vergangenen Tages in Gregs Kopf wie Puzzleteile zusammen und er erinnerte sich wieder, wo er war. Die Kolonie. Er war vom Zug gestürzt, Mav, Stan, Nici und Mara hatten ihn zur Kolonie gebracht und dort hatten die Einwohner beschlossen, ihn für drei Tage aufzunehmen. Dann war er mit Mav und Hanson mitgegangen. Und danach? An das Danach konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.
Vorsichtig drehte er seinen Kopf und stellte fest, dass er in einer kleinen Kammer lag. Mav und Stan saßen zu seinen beiden Seiten und hielten seine Arme fest, Mara und Nici hatten sich an seine Beine geklammert. Zu seiner rechten Seite hockte ein Mädchen, dessen Namen er noch nicht wusste, das er aber trotzdem sofort wiedererkannte. Diese grün-braunen Augen hatten sich in seinen Kopf gebrannt, sie würde er unter Tausenden von Menschen wiedererkennen. Greg versuchte sich an einem Lächeln, aber eine neue Schüttelfrostwelle durchfuhr seinen Körper. Diesen Teil hatte er also offenbar nicht geträumt.
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