Als er Nicks Namen erwähnte, kehrte wieder eine gespannte Ruhe ein. „Der alte Nick?“, fragte Hanson in die Stille hinein nach.
„Ja, er lebt in der City. Er kennt viele Leute und kam kurz nach mir in das Büro. Ich glaube, das Ganze hat etwas damit zu tun, dass Jesua Fingrey ein Gegner von Collin Rand war.“ Greg brachte selbst für seinen eigenen Verstand nur unzusammenhängende Informationen zu Tage. „Und ich wurde extra ausgerufen, dass ich zum Direktor kommen solle. Das ist doch merkwürdig, oder?“
„Deine Geschichte ist in der Tat merkwürdig.“, meinte ein junger Mann hinter Greg. „Ich glaube dir kein Wort. Du hast bestimmt etwas ausgefressen, und nun wirst du uns alle in Schwierigkeiten bringen.“
Einige Männer und Frauen stießen zustimmende Rufe aus. Die Stimmung im Saal schien zunehmend zu Gregs Ungunsten zu kippen. In all dem Durcheinander spürte Greg einen Blick in seinem Nacken. Vorsichtig drehte er sich um und blickte mit seinem einen funktionsfähigen Auge die Reihen der Menschen entlang, bis sein Blick an einem paar grün-brauner Augen hängen blieb, die ihn aufmerksam musterten. Sie gehörten einem Mädchen, dass kaum älter schien als er selbst. Greg wunderte sich darüber, denn außer ihm und seinen Rettern waren sonst nur Erwachsene im Raum. Die Augen zogen ihn magisch in ihren Bann. Wenn man nicht aufpasste, konnte man in ihnen ertrinken.
„Genug!“ Die laute Stimme von Pater Elia ließ Greg erschrocken herumschnellen und auch das Durcheinander an Rufen und Forderungen verstummen. „Greg!“, wandte sich der Pater direkt an den Jungen. „Deine nächsten Antworten sind sehr wichtig.“
Greg nickte als Zeichen, dass er die Tragweite der Situation begriffen hatte. Jetzt ging es darum, ob er den eingeschlagenen Weg fortsetzen konnte oder womöglich an die Behörden der City ausgeliefert werden würde. Ein Teil von ihm wünschte sich fast, endlich wieder zurück nach Hause zu können, egal was dort mit ihm passieren würde, doch ein anderer Teil war sich bewusst, dass das sein sicheres Ende bedeuten würde.
„Was weißt du über Collin Rand?“, fragte Pater Elia.
Greg zuckte mit den Schultern. „Er ist gefährlich. Fast alle wichtigen Firmen in der City gehören ihm. Es heißt, er will Gouverneur werden, aber Josh meint, das hat er gar nicht nötig, weil er sowieso schon alle Polizisten und Richter gekauft hat.“ Ein leises Kichern entrang sich einer Kehle, sonst war alles still.
„Hat der alte Nick dir noch etwas gesagt?“
„Ich soll zur Terapolis reisen und dort Inspektor Freydt aufsuchen. Er würde mir helfen.“, antwortete Greg.
Pater Elia und Hanson warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Kannst du uns beschreiben, wo deine City liegt?“
Greg schüttelte entschieden den Kopf. „Unmöglich. Ich habe die ganze Nacht unter einem Waggon gehangen und konnte nicht sehen, welche Richtung der Zug einschlug.“ Dann fiel ihm aber etwas anderes ein. „Aber ich kann es euch auf meiner Karte zeigen.“
Pater Elia schaute ihn verwundert an. „Du kannst eine Karte lesen?“
Greg runzelte die Stirn. Was sollte daran denn so besonders sein? „Ja. Ich habe sogar eine Karte dabei.“ Eilig kramte er in der Innentasche seiner Jacke und zog die zusammengefaltete Karte hervor. Vorsichtig öffnete er sie und breitete sie vor sich auf dem Boden aus.
Pater Elia, Hanson, Mav und einige andere Neugierige scharten sich um ihn und betrachteten die Karte. „Kovalzcyk?“, hörte Greg hinter seinem Rücken raunen. Er meinte, auch ein paar zustimmende Grunzer zu erahnen, während er sich konzentrierte, um zwischen den vielen Punkten und Strichen die Stelle wiederzufinden, die Nick ihm bezeichnet hatte. Endlich entdeckte er den Punkt mit der Markierung 95B457 und tippte mit dem Finger darauf. „Ich komme von dort.“, war alles, was er sagte.
Pater Elia nickte Hanson zu. „Pack die Karte erst einmal weg, Greg!“, meinte er. „Wir werden sie uns später noch einmal genauer anschauen.“ Die Leute um ihn herum zogen sich wieder zurück, so dass er mit Mav allein in der Mitte des Saales stehen blieb. Hastig faltete Greg die Karte zusammen und schob sie zurück in die Innentasche seiner Jacke.
„Also, nach allem, was wir bisher herausbekommen haben, ist Greg Hals über Kopf aus seiner City geflohen, nachdem er einen reichen Fabrikbesitzer tot aufgefunden hat.“, begann Hanson, die Situation für alle zusammenzufassen. „Möglicherweise hat das Ganze etwas mit Collin Rand zu tun, von dem einige Kunde sogar bis zu uns vorgedrungen ist,“ - zustimmendes Murmeln ließ ihn kurz innehalten - „aber dessen können wir nicht sicher sein. Greg reiste nach Art der Tramps unter einem Nachtzug, wurde auf offener Strecke losgeeist und dann von dieser tapferen Schar“, bei diesen Worten zeigte er auf Nici, Mara und Stan, die zusammen auf einer der Bänke saßen, „gerettet.“ Alle Augen richteten sich auf die Jugendlichen. Stan reckte die Brust heraus heraus, Nici winkte fröhlich in die Runde und Mara rollte so angewidert mit den Augen, dass die meisten schnell wieder zu Hanson und den beiden Jungen in der Mitte des Raums schauten. „Dann haben sie ihn hierher gebracht und wir müssen nun entscheiden, wie wir weiter vorgehen sollen.“
Die Männer und Frauen saßen mit angespannten Mienen auf den Bänken. Greg konnte die Intensität des Nachdenkens, dass sich in den Köpfen abspielte, förmlich mit Händen greifen. Es kam ihm vor, als ob alle Blicke auf ihn geheftet waren. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Hilfesuchend schaute er sich um und blieb wieder an diesem Paar grün-brauner Augen hängen, die ihn unverwandt musterten. Wie wunderschön, faszinierend, tiefgründig und zugleich erschreckend verwirrend diese Augen waren.
„Woher sollen wir wissen, ob wir ihm glauben können?“, brach eine krächzende Männerstimme die Stille.
„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wir müssen uns auf unseren Instinkt und unseren Menschenverstand verlassen.“, antwortete Pater Elia ruhig.
Greg riss sich von den Augen des Mädchens los und versuchte, der sich entspinnenden Diskussion zu folgen. Hauptsächlich ging es darum, ob Gregs Anwesenheit in der Kolonie eine Gefahr für die Menschen darstellte. Der lange Schatten Collin Rands schien sogar bis hierher zu reichen, denn sein Name fiel häufiger. Bald konnte Greg die Redner in drei Fraktionen einteilen. Es gab diejenigen, die den arroganten, eingebildeten und unfähigen City-Regenten gern eins auswischen wollten und schon aus Prinzip Greg auch aufgenommen hätten, wenn er tatsächlich ein feiger Mörder gewesen wäre. Dann gab es eine ängstliche Gruppe, die der Meinung war, dass eine kleine Kolonie unmöglich einer City die Stirn bieten könne. Diese Leute hatten Angst um ihr Leben und den Fortbestand der Kolonie, sollte Greg hier gefunden werden. Und dann gab es eine Fraktion, die der Meinung war, was in den Cities vorging, ginge sie nichts an. Sie pochten auf die Unabhängigkeit der Kolonie, waren aber uneins in der Frage, ob sie sich deshalb am besten aus allem heraushalten oder doch eher ihre Werte und Vorstellungen schon fast offen missionarisch nach Außen tragen sollten.
Je länger die Diskussion lief, umso verworrener wurden die Argumente. Schon bald kam es Greg so vor, als ob es hier gar nicht so sehr um ihn ging. Eher schienen die Menschen eine grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie ihr Gemeinwesen aussehen sollte. Die Behauptungen und Annahmen wurden immer theoretischer und irgendwie gewann Greg den Eindruck, als hätten sie Spaß an dieser Art Debatte. Er hatte das Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein, obwohl es hier doch in erster Linie um seine Zukunft gehen sollte.
Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen, die Schatten in dem Raum wurden länger, die Buntglasfenster verloren an Glanz und die Feuerbecken, deren Flackern sich in den Gesichtern der Menschen spiegelte, waren bald die einzige Lichtquelle. Greg taten alle Knochen weh und seit einiger Zeit spürte er ein rhythmisches Pochen in seinem geschwollenen Auge. Alles begann, sich um ihn zu drehen und er musste sich an Mav festhalten, um nicht hinzustürzen. Ob Hanson seinen Zustand bemerkt hatte, konnte Greg nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls klopfte dieser plötzlich laut mit dem Stein auf das Pult. Die Redebeiträge und das permanente Getuschel und Gemurmel, das die ganze Zeit über einen unterschwelligen Klangteppich gebildet hatte, verebbten.
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