Das Innere des Gemeindehauses war weit weniger spektakulär, als die Größe des Gebäudes von Außen vermuten ließ. Soweit Greg sehen konnte, wurde die gesamte Länge von etwa 20 Schritt und etwa zwei Drittel der Breite des Gebäudes von einem einzigen Raum mit holzgetäfelten Wänden und Parkettfußboden eingenommen. Die Wände waren mit Bänken gesäumt, in der Mitte des Raums stand ein riesiges Rednerpult, das über eine kleine Treppe erreicht werden konnte. Das Pult war rund und trug eine umlaufende Brüstung, so dass sich ein Redner frei an alle Richtungen in dem Raum wenden konnte. Das wenige Tageslicht, das durch die großen Buntglasfenster in der rechten Wand des Raumes seinen Weg herein fand, tauchte den Saal in ein eigenartiges Zwielicht. Die gespenstische Atmosphäre wurde noch durch mehrere kleine Feuerbecken verstärkt, die im Raum verteilt standen und flackernde Schatten an die Wände warfen. In der linken Wand konnte Greg mehrere Türen erkennen.
Er fand aber nicht die Zeit, sich über den Zweck der dahinter liegenden Räume den Kopf zu zerbrechen, denn Mav hatte ihn inzwischen bis direkt neben das Rednerpult geschoben, das Hanson bereits bestiegen hatte. Die Bänke füllten sich mit Menschen. Die meisten hingen ihren Gedanken nach, einige tuschelten, aber alle warfen immer wieder verstohlene Blicke auf Greg. Der Junge wunderte sich, wie sie alle so schnell von dieser eilig einberufenen Versammlung erfahren hatten, wagte es aber nicht, Mav danach zu fragen. Das Nachrichtensystem in der Kolonie schien hervorragend zu funktionieren.
Hinter sich spürte Greg Mav und Stan stehen, die somit ebenfalls Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit wurden. Zu seiner linken saßen Nici, die ihm fröhlich zuwinkte, und Mara, aus deren düster dreinblickender Miene so viel Leid und Trauer sprachen, dass Greg das ungute Gefühl beschlich, seiner eigenen Hinrichtung inklusive Beerdigung beizuwohnen.
Als die Bänke gut gefüllt waren, klopfte Hanson mit einem großen Stein auf das Pult und das Getuschel im Raum erstarb allmählich. Auch die Rufe vor dem Haus verstummten. Offenbar bemühten sich die Menschen vor der Tür, ja nichts von dieser interessanten Besprechung zu verpassen. „Freunde!“, rief Hanson mit lauter Stimme und hob die rechte Hand, als wolle er einen guten Bekannten grüßen. Er drehte sich dabei einmal um die eigene Achse, so dass er alle Anwesenden begrüßen konnte. Greg konnte sich vorstellen, dass diese eigenartige Anordnung des Pults in der Mitte des Raumes eine große Herausforderung für einen Redner darstellen musste. „Ich eröffne diese außergewöhnliche Gemeindesitzung. Es gibt nur einen Tagesordnungspunkt.“ Hanson machte eine kleine Pause und blickte auf Greg hinab. „Greg.“ Mit der Hand deutete der blonde Mann auf Greg, als wäre dieser ein besonders sehenswertes Ausstellungsstück in einer privaten Kuriositätensammlung. „Dein Name ist doch Greg, oder?“, fragte er in scharfem Tonfall und richtete einen Blick aus stechenden Augen auf den Jungen.
Greg nickte, dann fielen ihm gerade noch rechtzeitig Nicks warnende Worte ein. „Mein Name ist Theodor Gregorich Knox, aber alle nennen mich bloß Greg.“
„Kannst du das beweisen?“, rief ein ruppiger junger Mann dazwischen.
Greg klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke, zuckte aber vor dem Schmerz, dem ihm diese Bewegung verursachte, zurück. „Ich habe meinen Passierschein dabei. Darauf steht mein Name.“ Er zog den Schein heraus und hielt ihn Hanson unter die Nase.
Dieser studierte das Dokument eingehend, nickte dann bestätigend und wandte sich an die Jungen hinter Greg. „Stanley, Maverick! Berichtet bitte noch einmal allen Anwesenden, was vorgefallen ist!“
Stan ließ sich nicht zweimal bitten und sprudelte mit den Ereignissen des Tages heraus. Größtenteils hielt er sich an die Tatsachen, hier und da gelang es ihm aber, seinen eigenen heroischen Beitrag so auszuschmücken, dass es so aussah, als wäre Greg einzig und allein durch Stans tatkräftige Unterstützung dem Tod noch einmal gerade so von der Schippe gesprungen. Als er geendet hatte, erhob sich ein aufgeregtes Gemurmel. Hanson blickte in die Runde und klopfte erneut mit dem Stein auf das Pult.
„Gibt es Fragen an die Jugendlichen? Insbesondere an Greg?“, fragte er in die Runde.
Eine ältere Frau erhob sich. „Wieso bist du vom Zug geeist worden, Greg?“
Greg musste eine Zeit lang überlegen, denn genau genommen wusste er selbst nicht, was geschehen war, und die Frage nach dem warum war ebenso schwierig zu beantworten. „Ich weiß nicht genau.“, antwortete er deshalb wahrheitsgetreu. „Ich nehme an, es lag daran, dass ich ohne Fahrkarte unterwegs war.“, stellte er seine Vermutung mit ernster Miene in den Raum. In einigen Ecken erhob sich daraufhin lautes Gelächter. Ein alter Mann klopfte sich sogar begeistert auf die Schenkel. Greg schaute sich verwirrt um. Hatte er etwas Falsches gesagt? Er verstand nicht, was so komisch sein sollte.
„Und warum warst du ohne Fahrkarte unterwegs? Bist noch reichlich jung für einen Tramp.“, rief ein stämmiger Mann von rechts.
„Nein, nein. Ich bin kein Tramp.“, verwahrte sich Greg vehement. Der spöttische Gesichtsausdruck des Mannes zeigte, dass er ihm nicht glaubte. „Ich musste aus der City fliehen und da schien mir der Zug die beste Möglichkeit zu sein.“
Schlagartig wurde es stiller im Raum. Die Spannung, die Gregs Offenbarung erzeugt hatte, war förmlich greifbar. „Fliehen?“, rief eine junge Frau. „Wieso fliehen?“
Auch für Gedanken über die Hintergründe seiner Flucht hatte Greg bisher die Zeit gefehlt. „Ich bin mir nicht sicher.“, stammelte er. „Ich glaube, ich habe etwas gesehen, was für andere Leute gefährlich sein könnte, und jetzt wollen sie mir die Schuld in die Schuhe schieben.“
„Und was könnte das sein?“, fragte ein alter Mann in gehässigem Tonfall.
„Ich habe einen Toten gefunden. Jesua Fingrey.“, sagte Greg leise. Die Gesichter der Menschen, die in seiner Nähe saßen, zeigten ihm, dass ihnen der Name nichts sagte.
„Sprich lauter!“, riefen mehrere Stimmen von weiter hinten.
„Er hat einen Toten gefunden.“, brüllte der Mann, der Greg als Tramp bezeichnet hatte.
„Na und? Darum rennt man doch nicht fort.“, rief jemand als Antwort.
Greg fühlte sich wie vor einem Tribunal. So ungefähr musste sich eine Gerichtsverhandlung anfühlen. Warum war er nicht gleich in der City geblieben und hatte sich einem fairen Verfahren gestellt? Dort kannte man ihn wenigstens und würde ihm vielleicht eher glauben als hier unter all diesen fremden Menschen.
„Er war der Besitzer der Fabrik, in der ich arbeitete. Als ich in sein Büro kam, konnte er erst wenige Augenblicke tot gewesen sein. Jetzt glauben natürlich alle, dass ich ihn umgebracht habe.“, berichtete er mit erstickter Stimme. Er spürte selbst bei jedem Wort, wie fadenscheinig sein Bericht klang.
„Und warum sollten wir etwas anderes glauben?“, rief eine Frau mittleren Alters. „Er ist vor der Justiz der City geflohen, die ihn berechtigterweise wegen Mordes verhören will. Ich sehe keinen Grund, warum wir ihm Aufenthalt gewähren sollten.“
„Aber ich war es nicht!“, rief Greg bestürzt. Seine Unterlippe bebte und er spürte, wie seine Knie kurz davor waren, nachzugeben. Er fühlte Mavs Hand auf seiner Schulter, die ihm etwas Halt und Sicherheit gab. Stan war vorsichtshalber einige Schritte von ihm abgerückt. Man konnte schließlich nie wissen, was so ein gefährlicher Mörder als nächstes im Schilde führte. Außerdem hatte Greg den Verdacht, dass der Junge um jeden Preis vermeiden wollte, in ein schlechtes Licht zu geraten, falls der Fremde sich den Unmut der Versammlung zuzog.
„Der alte Nick hat mir geholfen. Und ein paar Tramps haben uns dann erklärt, wie man mit den Zügen die Terapolis erreichen kann.“ Greg spürte, wie die Aufregung und die Notwendigkeit, sich verteidigen zu müssen, ihm neue Kraft gaben.
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