Großvater Friedrich und Großmutter Ottilie, die Eltern von Mutter Luise wohnen im Allgäuer Memmingen direkt im Bahnhof. Im Krieg werden sie dort von den Alliierten zu 100 % ausgebombt. Friedrich ist Chef des elektrischen Stellwerks und zudem ehemaliger Ski-Abfahrtsmeister der Deutschen Bundesbahn. In den Dolomiten klettert er im Fels Schwierigkeitsgrade bis zur Stufe 6.
„Fritz, rauch nicht schon wieder!“
Opa Fritz hat gar nicht geraucht. Doch im brandneuen Schwarz-Weiß-Fernsehgerät hat sich gerade Ludwig Erhard, der Chef des neuen Wirtschaftswunders eine dicke Zigarre angesteckt.
Oma Ottilie verfügt offensichtlich über die seltene Gabe der übersinnlichen Wahrnehmung. Andi genießt die Urlaube in Memmingen. Es wird »Schafkopf« gegen Bares gespielt und Oma Ottilie hat eine ganze Menge Münzen für ihren Enkel gesammelt. Nur Bares ist Wahres! Der Bahnhof ist sein Abenteuer-Spielplatz. Gerne lässt er sich auf dem Metallgerüst-Steg des Bahnübergangs von den fauchenden 01er-Schnellzug-Dampflokomotiven beim Beschleunigen ordentlich räuchern. Nicht gerade zur großen Freude seiner Mutter. In der Wohnung riecht es anschließend wie in einer Räucherkammer. Dank Opas Beziehungen geht`s im Führerhaus einer 01er-Lok einmal sogar bis nach Oberstdorf.
1961 bringt die Sowjetunion ihren ersten Kosmonauten ins All und damit die USA unter Erfolgsdruck.
Am 24. Oktober 1962 gerät der Weltfriede massiv in Gefahr. Die Welt steht unmittelbar vor einem Nuklearkrieg.
US-Militärexperten haben mithilfe von Luftaufnahmen auf Kuba sowjetische, atomar bestückte Raketenstellungen entdeckt. Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion droht zu eskalieren. Einen Atomkrieg hätte in Europa an der Nahtstelle der Weltmächte kaum jemand überlebt!
Mutter lagert trotzdem im tiefen Keller Konserven ein. Paul hält Ausschau nach einem, vor atomarer Strahlung möglichst sicheren Ort, um der Apokalypse vielleicht doch noch zu entgehen. München ist von Rosenheim nur ca. 50 km Luftlinie entfernt. Es steht auf Messers Schneide. Der 3. Weltkrieg steht damit unmittelbar bevor. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow prügelt mit einem ausgezogenen Schuh das Rednerpult, zieht dann aber doch vor Kennedy den Schwanz ein und seine Atomraketen in letzter Minute aus Kuba zurück. Es hätte auch anders kommen können! Dann wäre das Leben von Andreas sehr übersichtlich verlaufen und dieses Büchlein wäre damit schon zu Ende!
Nachdem es aber weitergeht, unterrichtet Vater an einem Gymnasium im Stil der »Feuerzangenbowle« Latein, Altgriechisch und Germanistik. Zudem hat er noch eine Lizenz für Geschichte und Französisch. Er spricht auch fließend Italienisch und Neugriechisch. Er liebt es, Mutter beim Abwasch zuzusehen und rezitiert dabei griechische und lateinische Verse. Sie versteht diese zwar nicht, doch sie tut so als ob, was auch schon reicht. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn Vater das Geschirr abgetrocknet hätte.
Papa ist der Chef im Ring, Mutter die Geisha. Dafür ernährt er die Familie als Beamter mit unkündbarer Pensionsberechtigung. Mutter bewacht den häuslichen Frieden. Absolute Unbestechlichkeit und Integrität sind elementare Wesenszüge von Papa. Versuche von Schülereltern, ihm zu Weihnachten eine Flasche Wein zu schenken, wertet er als Beamtenbestechungsversuch und schickt sie postwendend zurück. Zur Vorspeise werden täglich lateinische, unregelmäßige Verben abgefragt, bevor der Schweinebraten auf den Tisch kommt. Dies verschafft Andreas den ordentlichen Grundstock, der ihn später Abitur-technisch in den Zustand der Reife versetzen wird.
Das mangelnde Gespür seines leider oft erkrankten großen Bruders Wolfgang für Mathematik und seine negativen Schwingungen gegenüber Vater geben oft Anlass für heftige Debatten. Beim gemeinsamen Mittagsmahl besteht die Möglichkeit, eine Stecknadel fallen zu hören. Jedes Kratzen des Suppenlöffels schmerzt das Ohr und passt zum gegenseitigen Minenspiel. Andreas freut sich schon jetzt darauf, das Elternhaus bei der ersten finanziell tragfähigen Konstellation rasch verlassen zu können.
Familiäre Höhepunkte sind zahlreiche Campingurlaube, die mit einem silbergrauen VW Standard mit 34 PS und ovalem Heckfenster durchgeführt werden. Sie führen stets an Orte, die nicht weit von archäologischen Ausgrabungen entfernt sind. Bereits im Kindesalter weiß Andreas somit bald über die Unterschiede dorischer, korinthischer und ionischer Säulen Bescheid. Es finden auch zahlreiche Museumsbesichtigungen statt, die er nur wenig spannend findet. Zwischendurch gibt es allerdings auch viel Campinggefühl und Strandvergnügen.
Früh lernt er Orte wie Jesolo, Rimini, Rom und Castiglione della Pescaia kennen. Es gibt in der Nähe meist Etruskergräber und byzantinische Fresken in alten Kirchen zu besichtigen.
1964 fährt die Familie sogar bis nach Griechenland, allerdings schon mit einem pastellgrünen Käfer mit rechteckigem, großen Fenster und 40 PS. Mit 12 Jahren steht unser Held auf der Akropolis von Athen. Zelt und Campingutensilien sind auf dem Aufbau des VW-Käfers verstaut. Damals ein echtes Abenteuer und eine logistische Meisterleistung von Mutter Luise. Sie ist außer dem Fahren für alles verantwortlich und trägt generell an allem die Schuld. Dies führt bei ihr im Laufe der Jahre zu psychischem Asthma.
An erholsamen Schlaf auf den Luftmatratzen ist nicht zu denken. Vater beherrscht sämtliche Varianten nächtlicher Lautverschiebungen, welche bis zur Apnoe reichen.
Bei Aufenthalten an Campingplätzen, die länger als eine Nacht dauern, brechen nahe stehende Zeltnachbarn nach dieser Nacht generell mit bösen Gesichtern ihre Zelte ab.
Andreas und Wolfgang schmieden gelegentlich Mordpläne. Mutter nimmt die Tatsache demütig und devot hin. Professor Paul erwartet in seinem Hauszelt gleich einem orientalischen Scheich denselben Service und Komfort wie zu Hause, inklusive aller Mahlzeiten. Das mitgeführte Dosenarsenal ist beträchtlich, dazu kommen noch eine große Propangasflasche nebst 2-Flammen-Klappkocher.
»Pater Familiae« thront mächtig in großvolumigen Badeshorts, Netz-Unterhemd und weißen Ringelsocken in Sandalen im großen Campingsessel. Mutter steht die wesentlich kleinere Variante zu. Andreas und Wolfgang teilen sich die kleinen Hocker ohne Rückenlehnen. Es ist unglaublich, was in einen solchen VW-Käfer mit Aufbau alles hineinpasst!
Vorausgesetzt, die Pack-Logistik stimmt! Nach den Urlauben werden andere bekannte Gymnasiallehrer mit deren Familien eingeladen und es gibt stundenlange Lichtbildvorträge. Überwiegend handelt es sich bei den Motiven um 2000 Jahre alte Skulpturen oder Säulenreste, die Vater aus allen Richtungen fotografiert hat. Andi überfällt bei dem mega-spannenden Thema bleierne Müdigkeit.
Am 22. November 1963 wird John F. Kennedy in Dallas erschossen. Andi heult die Kopfkissen voll Rotz und Wasser. Der jugendlich wirkende, smarte John F. Kennedy, besonders aber seine fesche Jacky haben ihm gut gefallen.
Wenn nicht verreist oder auf die Alm gefahren wird, geht es in einer 3-stündigen Fahrt zu Mutters Eltern nach Memmingen. Opa arbeitet dort bei der Deutschen Bahn und leitet das elektrische Stellwerk. Der sehr gute Skiläufer, Bergsteiger und Kletterer bastelt für seine Enkel die ersten Alpin-Skier mit Stahlkanten und bringt ihnen schon früh das Skifahren bei. Diese Skier der Marke »Esche brutal« verfügen über einen aufgepinselten roten Belag und derb eingeschraubte Stahlkanten. Der Fahrspaß hält sich in engen Grenzen!
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