»Mein Name ist Ayla Aydin und das ist mein Kollege Sven Nagel, wir sind von der Polizei.« Sie sagte absichtlich Polizei und nicht Mordkommission. Diesen Fehler hatte in ihrer Anfangszeit bei der Mordkommission ein älterer Kollege gemacht und damit einen Nervenzusammenbruch provoziert, noch ehe er der Frau sagen konnte, dass er nur etwas fragen wollte. Sie sollte nur als Zeugin befragt werden, ob sie einen bestimmten Vorgang beobachtet hatte.
»Es geht um ihre Tochter, aber ich würde gern im Haus darüber reden.«
»Was ist mit meiner Tochter, ist ihr etwas passiert. Liegt sie im Krankenhaus. Warum hat man uns nicht verständigt, in welchem Krankenhaus liegt sie. Bitte, Sie müssen mir das Sagen.«
Die Fragen die wie Kanonenschüsse abgefeuert wurden, zeigten jetzt das andere Gesicht der Frau. Zeigte die Angst, die man als Mutter hat, wenn Kinder flügge werden und ihre eigenen Wege gehen.
»Bitte Sie müssen es mir sagen« nun klang ihre verzweifelte Stimme erstickt, so als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
»Bitte lassen Sie uns reingehen, wir werden Sie über alles Informieren, was wir Ihnen sagen können.«
Der Vater ein bereits ergrauter leicht übergewichtiger Endvierziger stand im Wohnzimmer und wartete neugierig, was die aufgeregten Stimmen zu bedeuten hatten.
Es war unmöglich, Eltern den Tod des eigenen Kindes schonend mitzuteilen, man konnte es nur so zurückhaltend wie möglich sagen. Ayla verzichtete auf Details, diese würden sie zwar zu einem späteren Zeitpunkt sowieso erfahren, aber dann hoffentlich besser verkraften.
Die Mutter weinte still vor sich hin, der Vater saß mit leerem Blick in dem braunen Ledersessel, auf den er kraftlos gefallen war, und bewegte den Mund, ohne dass ein Ton zu hören war. Die Hilfe eines Polizeipsychologen lehnte sie ab, sie fragte nur verzweifelt, wie sie es ihrer zweiten Tochter Sophie sagen solle, die bald nach Hause käme.
Sie schwiegen, waren in Gedanken, jeder dachte auf seine Weise an Sarah Winkler und daran wie sehr die Familie, die in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr existierte, damit umgehen soll. Würde sie daran zerbrechen, würden sie ihre Liebe und Zuneigung auf die jüngere Tochter projizieren?
Die Angst auch dieses Kind zu verlieren konnte dazu führen, dass sie diese immer mehr einengten, bis sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. Es war eine schwierige Situation und nur die wenigsten Familien konnten ohne Hilfe aus diesem Chaos herausfinden, ohne größeren Schaden zu nehmen.
Ayla dachte an ihre vierzehnjährige Tochter, die jetzt bei ihrem Vater sein sollte. Plötzlich fiel ihr die Doppeldeutigkeit dieser Annahme auf, Marie sollte natürlich bei ihrem Vater und nicht bei ihrem Erzeuger sein. Schon der Name ihrer Tochter sorgte damals für Streit in der Familie ihres Ex-Mannes, denn natürlich sollte sie einen rechtgläubigen türkischen Vornamen erhalten. So die Ansicht ihrer Ex-Schwiegermutter, die ihr unmissverständlich klar machte, wer künftig in der Familie das Sagen hatte.
Nach außen die liebende Ehefrau und fürsorgliche Mutter darstellend führte sie, wie ihr Vater einmal treffend feststellte, ein Terrorregime, dem sich alle unterzuordnen haben. Der Streit hätte beinahe dazu geführt, dass sie, obwohl bereits schwanger, die Hochzeit abgesagt hätte. Ihrem künftigen Ehemann hatte sie erklärt, weshalb sie den nach seiner Mutter ungläubigen Namen gewählt hatte.
Marie ist auch ein aramäischer Name und bedeutet »die Gesegnete«, und auch wenn Aramäer in der Türkei eine Minderheit wären, so sind sie doch Türken. Das beruhigte zwar ihren Ex-Mann nicht jedoch ihre Ex-Schwiegermutter, die es jedoch, in der Annahme später ihren Einfluss geltend zu machen, vorerst hinnahm.
»Lass uns zur Gerichtsmedizin fahren, Sarah Winkler sollte inzwischen auch da sein«, unterbrach sie das Schweigen und riss ihren Kollegen aus seinen Gedanken.
»Du glaubst doch nicht, dass heute am Samstag noch jemand da ist, um die Untersuchung zu machen«, wandte er zweifelnd ein.
»Die werden natürlich eine Voruntersuchung vornehmen, dann am Montag kann niemand mehr nachweisen, ob sich in ihrem Blut Benzodiazepine befunden haben oder nicht.«
Mit einem Lächeln fuhr sie fort »vielleicht ist Dr. No da und wartet bereits auf uns.« Das verzogene Gesicht, das aussah, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen, sagte ihr genug, auch Sven war kein besonderer Freund von Dr. No.
Kaum aus der Motorradjacke geschlüpft griff er wie automatisch zu seinem Fernglas und starrte in die leere Küche gegenüber. Obwohl er jedes Detail von der Frau seiner Träume kannte und jedes Detail inzwischen in seinem Gedächtnis eingebrannt war, konnten diese Erinnerungen nicht mit der Realität standhalten. Natürlich war es ihm möglich, sie mit geschlossenen Augen zu beschreiben, in seinen Gedanken konnte er sie sich sogar vorstellen, wie sie in unterschiedlichen Kleidern aussah.
Resigniert legte er das Fernglas zur Seite und wandte sich seinem Rechner zu, vielleicht gab es eine Aufzeichnung von ihr, wie sie frühstückte, sich mit ihren Mitbewohnerinnen austauschte. Mit etwas Glück würde er etwas erfahren, was neu für ihn war.
Seine Befürchtungen bestätigten sich, als unmittelbar nach ihr dieser neue Freund die Küche betrat, der sich Ken nannte. Konnte er sich denn keine Barbie suchen, wenn er unbedingt Ken sein wollte, in Wirklichkeit hieß er nämlich Kevin Schulze. Oder wie wäre es mit einer Chantal, mit der konnte er geistig auf einer Ebene schwimmen. Wenn er auf die Vorurteile zurückgriff, die sich mit dem Vornamen verbinden ließen, so stellte dieser Ken ein typisches Exemplar dar.
Es bereitete ihm körperliche Schmerzen, wenn er zusehen musste, wie sie Zärtlichkeit austauschten, die mitunter sehr intim wurden, wenn er ihr unter ihr Shirt oder ihren Slip griff. Was für eine Beherrschung es für ihn bedeutete, die Aufnahme nicht vorzuspulen, um diese Zärtlichkeit nicht sehen zu müssen, bemerkte er erst später, wenn die Szene zu Ende war und er schweißnass wieder zu atmen begann.
Auch wenn er ihn nicht ausstehen konnte, ihn sogar hasste, so gestand er sich ein, dass dieser Kevin in den Augen einer Frau besser aussah als er. Kam es in dieser aufgeklärten Zeit immer noch nur auf das Aussehen an. Früher beschwerten sich Frauen nur auf Äußerlichkeiten reduziert zu werden und heute begingen sie die gleichen Fehler.
Keine seiner bisherigen Bemerkungen ließ einen Schluss auf seinen beruflichen Werdegang zu, sein begrenzter Wortschatz ließ jedoch Rückschlüsse zu. War sie so verliebt, dass sie das nicht wahrnahm, oder bestätigte sie damit nur das Sprichwort »Liebe macht blind.« Vielleicht sollte man in diesem Fall das Sprichwort in »blind und taub« ergänzen.
Auch wenn es ihm nicht gefiel, etwas Neues bekam er doch noch zu sehen, als sie Laura ihren linken Arm vors Gesicht hielt, und um sie herumtanzte. Auf der Innenseite befand sich nun ein Tattoo, mit der sie ihre Verbundenheit mit Kevin bekunden wollte, da stand künstlerisch verziert der Name Ken. Wieso hatte sie nicht seinen richtigen Namen geschrieben?
Nach etwa einer Stunde verabschiedete sich Ken, da er noch einen Termin habe, den er nicht aufschieben könne. Was für einen Termin, Lukas spuckte den Begriff in Richtung der gegenüberliegenden Küche, wahrscheinlich wollte er eine Bank ausrauben.
Das gleiche Prozedere erfolgte als Anna übermüdet nach Hause kam und teilnahmslos alles über sich ergehen ließ. Die einzige Aussage, zu der sie noch imstande war »ich bin zu müde« und ließ ihren Kopf auf die Arme sinken.
Noch beim Verlassen der Küche rief sie zurück »weckt mich nicht vor sechs Uhr heute Abend aber noch vor Sieben.« Kaum noch zu verstehen war ihr Gemurmeltes »bin noch nicht fertig mit ihm.«
Noch ehe die verbliebenen beiden ebenfalls die Küche verließen, verabredeten sie, was sie heute Abend unternehmen wollten. Nach einer längeren Diskussion über die unterschiedlichsten Clubs einigten sie sich auf den aktuellsten Szene-Club, der in aller Munde war.
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