Die philosophische Frage von Immanuel Kant der Gerechtigkeit als unverzichtbaren Wert postulierte und John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit hatten sie zum Nachdenken gebracht. Dessen ersten Grundsatz, »Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist« konnte sie nicht als Wald und Wiesenanwältin nachkommen.
Es waren längere Phasen der Ungewissheit und ihre Suche nach einem Ausweg führte unweigerlich dazu, sich mit der Arbeit der Polizei auseinanderzusetzen. Nach längerer Grübelei glaubte sie, einen Ausweg gefunden zu haben.
Wie wäre es, wenn sie zur Polizei ginge, um sozusagen an vorderster Stelle für die Gerechtigkeit zu kämpfen die sie für unverzichtbar hielt. Es gab nur ein Hindernis, welches ihr jeden Morgen bewusstwurde, wenn sie einen Schemel benutzte, um sich im Spiegel schminken zu können. Sie war zu klein. Und zwar um ganze zwei Zentimeter. Wer auch immer sich nicht genügend angestrengt hatte, jetzt fehlten sie ihr.
Es stellte sich aber als überwindbares Hindernis heraus, in den anderen Belangen konnte sie mit teils überragenden Leistungen punkten. Bei der sportlichen Prüfung dem Schwimmen überraschte sie einige der Prüfer mit der drittschnellsten Zeit. Damit stand einem Eintritt in die Polizei nichts mehr im Wege.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie ihr Kollege versuchte, den Schutzanzug zu überzuziehen. Obwohl er bereits die maximale Größe benutzte, würde er aussehen, als hätte er seinem kleinen Bruder den Strampelanzug entwendet. Dazu kam, dass diese Einweg-Anzüge sich bei zu heftiger Bewegung in ihre Einzelteile auflösten.
Sie kannte dieses Bild bereits von früheren Einsätzen, wusste auch, wie unglücklich er in dem Anzug aussah. Bei der Beschaffung dieser Schutzanzüge hatte man nicht berücksichtigt, dass es auch Polizisten mit einer Größe jenseits der zwei Meter geben würde. Sie empfand es keineswegs als ausgleichende Gerechtigkeit, dass sie, obwohl im kleinsten Anzug, darin aussah als würde sie jeden Augenblick darin verloren.
Sven Nagel maß jedoch zwei Meter und fünf Zentimeter und war damit fast einen halben Meter größer als sie. Um ihrer Erscheinung jegliche Komik zu nehmen, wenn sie gemeinsam an einem Tatort erschienen, versuchte er sich kleiner zu machen, als er war. Deshalb wirkte er immer etwas unbeholfen, obwohl sie ihn schon in Situationen ganz anders erlebt hatte.
Bei einer Demonstration in der Trainingshalle hatte er gezeigt, weshalb er Jugendmeister im Teak Won do hatte werden können. Diese Geschmeidigkeit und Eleganz der Bewegung kam in dem Schutzanzug nicht nur nicht zum Vorschein, sie wurden regelrecht ins Gegenteil verkehrt.
Die Arbeiten der Kriminaltechnik des Fotografen wie des Gerichtsmediziners waren seit geraumer Zeit im Gange, sodass sie immer ungeduldiger wurde. Rücksichtnahme ist ja schön und gut aber nicht, wenn sie sich in ihrer Arbeit behindert fühlte.
Natürlich wusste sie, dass der Tatort durch die Kollegen nicht verändert werden würde, bis ich diesen in Augenschein genommen hatte. Aber die Angst, es würden Details verändert die Hinweise zur Aufklärung geben konnte, überfiel sie immer mal wieder.
Sie betrachtete ihren unglücklich dreinblickenden Kollegen, dann meinte sie aufmunternd »na los, lass uns unsere Arbeit machen.« Energisch überquerte sie die Schwelle und betrat den Tatort.
»Hallo Großvater, tut mir leid, dass ich mich verspätet habe« er lächelte bedauernd, während er seine Sporttasche auf der Bank abstellte. Er wusste, wie er das etwas verkniffene Gesicht wieder zum Lächeln bringen konnte. Schließlich traf er sich mit seinem Großvater seit annähernd zwanzig Jahren zum Training. Obwohl dieser kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag war, stand er kerzengerade mit der traditionellen Kleidung eines Iaidoka dem Hosenrock oder Hakama der Jacke mit Unterhemd und einem breiten Gürtel.
»Hallo Lukas, schön das Du es trotzdem geschafft hast, ich gehe schon mal vor und beginne mit meinen Übungen. Du weißt ja, die alten Knochen brauchen immer ein bisschen länger, bis sie wieder beweglich werden.«
Keiner hätte auch nur annähernd sein wahres Alter geschätzt, wenn er sich, wie jetzt, in Vorbereitung auf das Training konzentrierte. Diese Übungen, die er seit nunmehr vierzig Jahren ausführte und die ihn ein Sensei im Land des Ursprungs gelehrt hatte, waren ihm im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Vor fast zwanzig Jahren hatte er dann begonnen, seinen Enkel in dieser Sportart, die er in Japan lieben gelernt hatte, zu unterrichten.
Es war eine Kampfsportart, eigentlich war es eine besondere Form der Schwertkampfkunst, wie man sie aus dem Mittelalter kannte. Der spirituelle Aspekt dieses Schwertkampfes lag dabei auf der charakterlichen Bildung des Kämpfers und erst zweitrangig auf dem Umgang mit dem Schwert.
Ein Teil der Übungen beim Iaido besteht darin, dass man sich einen imaginären Gegner vorstellt, auf den man immer wieder einschlägt. Diese Schläge erfolgen in einem exakt vorgegebenen Ritual.
Sein Großvater hatte ihm unzählige Male erzählt, wie er damit zum ersten Mal in Berührung gekommen war. Er befand sich in einer schwierigen Situation, seine erste Frau, und damit auch seine Großmutter, die er nie kennengelernt hatte, war gestorben. Damals, noch Botschafter in Japan mit einem zehnjährigen Kind und ohne weitere Angehörige fühlte er täglich, wie die Grenzen der Belastbarkeit immer enger wurden. In dieser Situation war es der Onkologe seiner Frau, der eine Pflegerin empfahl, die die Pflege seiner Frau übernahm und ohne, dass dies vereinbart war, sich auch um die Belange seiner Tochter kümmerte.
Erneut war es der Onkologe seiner verstorbenen Frau, der inzwischen zum Freund geworden, ihm half, seinen inneren Frieden wiederzufinden. Dieser hatte ihm mit einer Aussage die Grundzüge seiner Lebensphilosophie nahegebracht. Erst nach Jahren des Trainings und der Besinnung verstand er dessen Philosophie, wenn er sagte »es bleibt immer ein Gegner, den ich besiegen muss, und der bin ich selbst«.
Erst da hatte er begriffen, dass beim Iaido der Charakter und die Persönlichkeit des Kämpfers geformt werden. Er musste lernen, dass das Erreichen gewählter Ziele nur durch Selbstbeherrschung und der nötigen Entschlossenheit erreicht werden kann.
Die Kosten für die Behandlung seiner Frau hatten seine Ersparnisse nicht nur aufgebraucht, er hatte sich darüber hinaus hoch verschuldet. Als seine Kreditwürdigkeit erschöpft und die Bank sich weigerte, das Darlehen zu erhöhen, hatte er nach alternativen Wegen gesucht, um das erforderliche Geld für die Behandlung und Pflege seiner Frau zu verschaffen.
Zuerst überraschte ihn die Großzügigkeit, als er von unbekannter Seite Unterstützung fand und die Hilfe erhielt, die er dringend benötigte. Die Frage nach dem unbekannten Gönner schob er weg, wollte nicht wissen, woher das Geld kam, das die steigenden Kosten deckte.
Auch wenn er sich wunderte, wie bereitwillig die Übernahme der Behandlungskosten erfolgte wusste er doch, dass er dies nicht als Geschenk ansehen durfte. In nicht zu ferner Zukunft würde er dafür eine Rechnung erhalten, deren Begleichung ihm hätte Sorgen bereiten sollen aber er schob Sorgen und Bedenken einfach beiseite. Er hatte keine Wahl.
Die Fragen, die er zum Beginn des Geldeingangs stellte, wurden immer leiser, je länger die Behandlung dauerte. Später hatte er auch diese Fragen eingestellt und das Geld dankbar angenommen.
Dass dieses Darlehen nicht ohne Folgen war, sollte er erst sehr viel später erfahren, als man ihn erinnerte, wie hoch der Betrag mit den Zinsen inzwischen angewachsen war. In dem großen Buch der Schuldner wie die Übermittler der Nachricht sich ausdrückten, stand ein unvorstellbarer Betrag, der nun fällig wurde.
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