Nun war ungefähr ein Monat vergangen. Ab und an waren noch Explosionen zu hören. Der Nikotinentzug hatte sich so weit gelegt und im Training hatten wir super Fortschritte gemacht. Es war kaum zu glauben, dass ich es schaffte, meinen Mann niederzuringen. Er hatte es mir etwas leichter gemacht. Dennoch war es vorher unvorstellbar gewesen, dass ich mich, mit meinem zierlichen Figürchen, jemals gegen 110 kg Lebensgewicht durchsetzten könnte. Mittlerweile bereiteten mir die Angriffe und das Verteidigen keine Schmerzen mehr. Anfänglich hatte ich noch bei jedem ausgeteilten Schlag ein lautes „Aua“ von mir gegeben; jetzt war ich schon richtig abgehärtet.
Nachdem wir unsere Sucht überwunden hatten, hatten wir richtig Spaß oder zumindest machten wir das Beste aus unserer Situation. Nur Mark schien immer noch völlig fertig zu sein. Sein Zustand war unverändert, er saß immer noch zusammengekauert in seiner Ecke und stammelte etwas vor sich hin, das sich bei genauem Zuhören etwa anhörte wie: „Ich bin tot!“ Die letzten Tage hatte er sogar das Essen verweigert und eines Abends verlor er komplett die Nerven. Er schrie herum und rannte zum Ausgang des Bunkers. Er zerrte und stieß gegen die schwere Tür: „Ich will raus!“ Ben und Kai versuchten ihn aufzuhalten; ihn wieder zur Vernunft zu bringen, doch Mark schlug um sich. Er war völlig einem unerklärlichen Wahn verfallen. Kai presste Mark gegen die Betonwand und wies ihn an sich zu beruhigen. Doch es hatte keinen Sinn. Mark wehrte sich mit Händen und Füßen und auch seine Wortwahl ließ mehr als zu wünschen übrig. Ich ging zu den beiden. „Lass ihn gehen, es hat keinen Sinn mehr. Er sieht keinen Sinn mehr“, flüsterte ich Kai zu. Kurz darauf kam Heinz und öffnete widerwillig mit dem Schlüssel die Bunkertür um Mark raus zu lassen. Mark stieß Kai zur Seite und stürmte aus unserem unterirdischen Betongefängnis. Sofort schloss Heinz die Tür wieder. Erneut begann die Erde zu beben und wieder war ein lautes Grollen zu hören. Wir waren uns sicher: Wir hatten zugelassen, dass Mark in den Tod lief.
Jetzt war es zwei Wochen her, seit Mark den Bunker verlassen hatte. Wir waren nur noch zu siebent und Heinz’ wurden Vorräte knapp. Zu allem Überfluss hatte sich auch der Notstromgenerator durch die Dauerbelastung abgeschaltet. Kein Licht mehr, nur noch der Schein der Kerzen, deren Flammen sich mit unserem Sauerstoff nährten. Die Stimmung sank rapide. Jeder Einzelne von uns zog sich zurück nur um den anderen keine Dinge an den Kopf zu werfen, die man später bereuen würde. Mehr denn je kam mir der Bunker wie ein Gefängnis vor. Während ich so auf meinem Bett lag, dachte ich darüber nach, ob es noch einen Sinn hatte, länger hier zu bleiben. Hier unten würden wir früher oder später verhungern und was da oben auf uns wartete, wusste niemand von uns. Nur eines war gewiss: Seit etwa drei Tagen waren keine Explosionen mehr zu hören; die Erde hatte nicht mehr gebebt.
Ich sehnte mich danach wieder einmal frische Luft zu atmen, den Himmel zu sehen, das Zwitschern der Vögel zu hören. Ich wollte, wenn ich schon sterben musste, als freier Mensch sterben. Nicht als Gefangene in diesem Loch.
„Es wird Zeit, dass wir den Bunker verlassen, und sehen, was da oben auf uns wartet. Vielleicht findet über uns wieder das ganz normale Leben statt und wir kauern hier und warten darauf früher oder später den Hungertod zu erleiden", schlug ich bei unserem kalten Mittagessen, den anderen vor.
„Da oben erwartet uns auch nur der Tod, wir sind wahrscheinlich die einzigen Überlebenden", gab Ben gereizt zurück.
„Jetzt komm mal wieder runter", sagte ich ruhig, „Natürlich, das mit dem normalen Leben ist wahrscheinlich mehr als übertrieben von mir, muss ich zugeben. Aber wie viele Action und Endzeitfilme hast du schon gesehen? Du bist doch derjenige von uns der immer daran, glaubt, dass es ein Happy End gibt. Und in jedem von diesen Filmen, die ich gesehen habe, gab es immer mehr als eine Gruppe überlebende die sich gegen dieses Elend auflehnten, das sich über die Menschheit gelegt hatte.“
„Der Tod erwartet uns so oder so, ob hier unten oder oben. Aber auch ich bin dafür, dass wir uns aufmachen und vor unserem Tod wenigstens noch ansatzweise herauszufinden, was passiert ist“, meinte Jonas.
„Was wäre das Leben ohne ein wenig Abenteuer? Ich bin dabei“, sagte Kai zustimmend. Auch Anna stimmte zu. Lediglich Ben und Silke zögerten noch. Ben wirkte nachdenklich, vermutlich versuchte er sich jetzt gerade alle Filme in Erinnerung zu rufen. Er grinste: „Gut ich komm mit.“ Erst jetzt stimmte auch Silke zu.
Heinz stand auf und ging in Richtung Vorratsraum. „Ich bin zu alt für solche Abenteuer. Ich bleibe. Macht euch keine Sorgen, was aus mir wird, ich habe für mich schon einen Plan.“, er öffnete den Waffenschrank und brachte jedem von uns ein Gewehr und Munition.
„Bist du sicher, dass du hier bleiben möchtest?“, fragte Jonas.
„Ja, ich bin euch nur eine Last und ich habe schon so viel Leid in meinem Leben gesehen, da muss ich nicht noch mehr erleben", antwortete Heinz ruhig. Daraufhin gab er Jonas den Schlüssel zum Waffenschrank und zum Bunker. „Falls ihr Waffennachschub braucht.“
Wir verabschiedeten uns von Heinz, mit dem Versprechen wieder zu kommen, wenn wir uns über die Lage in der Stadt im Klaren waren. Heinz nickte und schloss jeden von uns noch einmal in die Arme.
Wir stiegen hinauf, in das, was einmal Heinz’ Garten gewesen war. Unsere Augen mussten sich erst wieder, nach der langen Zeit im relativ dunklen Bunker, an das Tageslicht gewöhnen. Es war kalt. Es musste jetzt Mitte Oktober sein. Doch von einem goldenen Oktober war nichts zu sehen. Als ich meinen Augen endlich wieder trauen konnte, musste ich feststellen, dass es hier draußen irgendwie dunkel und grau war. Das lag an dem riesigen Wolkenfeld, welches über uns ragte. Aber auch daran, dass der einst schöne, blühende Garten, völlig verdorrt war. Über alles hatte sich ein grauer Aschefilm gelegt. Auch Heinz’ Haus war nicht mehr strahlend weiß und einladend sondern grau und baufällig. Riesige Risse in der Fassade; die Fensterscheiben eingeschlagen; einige Dachpfannen lagen zerbrochen auf dem Boden. Die Gartenstühle waren quer im Garten verteilt. Dort wo das restliche Fleisch liegen geblieben war, welches wir vor einigen Wochen noch gemeinsam grillen wollten, war nur noch ein nach Fäulnis stinkender Madenhaufen. Der Tisch, auf dem wir unsere Zigaretten zurückgelassen hatten, war umgekippt und unsere Zigarettenschachteln waren nirgendwo mehr zu finden. Mark musste sie mitgenommen haben. Ich war so weit vom Nikotin entwöhnt, dass es mich nicht störte, nur Kai ärgerte sich ein wenig darüber. Mein zweiter, etwas dickerer Pullover, lag auf dem Terrassenboden unter dem Pavillon. Ich hatte ihn für den Fall das es abkühlte zur Grillparty mitgebracht. Der Pullover war staubig, daher schlug ich ihn ein paar Mal in den Wind, ehe ich in mir überzog. Jetzt war mir schon um einiges wärmer. Auch Silke und Anna fanden ihre Strickjacken, die sie mitgebracht hatten, in einem der Büsche. In der Zeit, die wir in völliger Isolation verbracht hatten musste es sehr stürmisch gewesen sein.
Langsam gingen wir durch das, vom Staub befallene, Haus. Es sah richtig herunter gekommen aus, nicht so als hätte hier noch vor knapp anderthalb Monaten noch jemand friedlich gelebt - eher als würde es schon seit Jahren leer stehen. Im Staub auf dem Boden sahen wir kleine Rattenspuren. Wir gingen in die Küche. Kai drehte den Wasserhahn auf, kein Wasser. Er betätigte die Lichtschalter, kein Licht, kein Strom.
Bei jedem Schritt knarrte und ächzte der Boden unter unseren Füßen. Ich hatte Sorge, dass er unter uns zusammenbrechen würde. Ehe wir zur Haustür hinaus gingen, nahmen sich auch Jonas, Ben und Kai je eine Jacke aus Heinz’ Garderobe. „Heinz mag es uns verzeihen", meinte Ben.
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