Für heute nahm ich mir vor, das ganze Haus nach nützlichen Gegenständen zu durchsuchen. Vorsichtig stieg ich die Stufen der Holztreppe nach oben. Das Holz knarrte und ächzte gefährlich unter meinen Füßen. Mir wehte ein kühler Wind entgegen und der Boden war nass, als ich aufsah, erkannte ich warum. Das Dach war zum Teil eingestürzt. Ich konnte noch nicht mal alle Räume betreten, lediglich einen. Das Schlafzimmer war nicht betroffen gewesen und doch war jeder weitere Schritt eine Mutprobe. Zunächst hievte ich die Matratzen auf, ließ sie hochkant die Treppe hinunter rutschen und warf ich die Kissen und Decken ins Erdgeschoss. Im Kleiderschrank suchte ich nach weiteren Decken, dabei stellte ich fest, dass der damalige Eigentümer meine Kleidergröße hatte. Die Kleidung war zwar nicht ganz mein Stil, aber es wurde wirklich Zeit sie zu wechseln. Ich sah aus dem zerstörten Fenster hinaus. In direkter Umgebung standen noch zwei weitere Häuser, welche ich durch die Gärten erreichen konnte. Ich ging hinunter, um die Matratzen und die Decken in den Keller zu schaffen und damit für die anderen ein Schlaflager zu errichten. Danach nahm ich mir die Kisten im Keller vor. Oh man, da hab ich ja einiges zu tun, dachte ich bei mir, als ich die ganzen Kisten genauer betrachtete. Sie waren hauptsächlich gefüllt mit überflüssigem Kleinkram wie Porzellanfiguren. Nichts Nützliches. Stundenlang durchsuchte ich die unzähligen Kisten, doch nichts. Langsam ödete mich das alles an und ich sehnte mich nach Gesellschaft. Es würde sicherlich mehr spaß machen, wenn noch jemand bei mir gewesen wäre. Als ich mir eine weitere Dose zu Essen öffnete, sah ich, dass die Dämmerung langsam eintrat, und entschied nach dem Essen wieder nach der Luke zu suchen.
Ich steckte mir zwei Messer und die Taschenlampe an den Gürtel. Vorsichtig öffnete die Tür und schlich hinaus. Es war noch nicht ganz dunkel, aber wenn ich die Luke sicher finden wollte, musste ich das restliche Tageslicht nutzen. Als ich sah, dass die Luft rein war, lief ich schnell nach rechts, robbte von Baum zu Baum, die Augen und Ohren immer offen, bis ich endlich die Burgruine sah. Ich kletterte auf einen Baum hinauf, beobachtete meine Umgebung genau. Nachdem ich alles überblickt hatte, sprang ich von dem Baum hinunter und rannte zu der Luke. Packte den Griff, doch er ließ sich nicht bewegen. Ich nahm den kleinen Schlüssel, den ich im Tunnel gefunden hatte, und steckte ihn in das Schlüsselloch auf dem Griff, nachdem ich den Schlüssel umgedreht hatte, bewegte sich auch der Griff und ich konnte die Luke öffnen. Schnell stieg ich hinab und schloss den Deckel über mir. Unten im Tunnel schaltete ich die Taschenlampe ein und ging bis zum Panik-Raum. Dort wartete ich auf Nachricht von den anderen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Kai und Anna in den Raum. Anna war außer Atem, aber sie lächelte. Kai hingegen wirkte gedrückt. Ich konnte mir vorstellen, was los war, zumal Ami nicht dabei war, um ihre Schwester zu verabschieden. Ich klopfte ihm auf die Schulter, versuchte ihn zu ermuntern, weiter durchzuhalten. Seine Frau hatte eindeutig das schlimmere Los gezogen. Natürlich konnte ich mich nicht annähernd in Kai rein versetzten, ich wusste nicht was ich tun und denken würde, wenn ich an seiner Stelle wäre. Doch es war wichtig, für uns alle, dass er Ruhe bewahrte.
„Ben wird morgen mit Silke kommen, wir können die Leiche, die wir für Anna benutzt haben morgen noch einmal verwenden. Zumal ich sie versteckt habe und kein Anderer aus dem Leichendienst sie finden wird", sagte Kai gedrückt, „Ich komm dann morgen etwas später hierher.“
„Das ist gut, je schneller es geht, desto besser", sagte ich. Anna nahm Kai zum Abschied noch einmal in den Arm, ehe wir den Tunnel entlang zur Luke gingen.
„Es ist so befreiend, dieses Ding am Arm los zu sein", sagte Anna mit einer Euphorie, wie ich sie bei ihr noch nie wahrgenommen hatte.
„Wie geht es Ami und Kai?“, das interessierte mich, nachdem ich Kai gesehen hatte, viel mehr.
„Ami geht’s richtig schlecht. Als wir gestern wieder zur Baracke kamen, stand bereits einer der Mächtigen da. Mit relativ ungehaltenem Tonfall hatte er uns beschimpft und Ami gleich zum Raumschiff gezerrt. Heute früh kam Ami in die Baracke gekrochen und konnte sich nicht mal richtig rühren. Silke und ich hatten sie aufs Bett gelegt. Als ich ihr half die Hose auszuziehen, lief das Blut immer noch die Schenkel runter. Sie sagte, er habe sich drei oder vier Mal brutal an ihr vergangen und sie geschlagen, weil sie nicht in der Baracke gewesen war und er deshalb auf sie warten musste.“
„Das tut mir so leid", erwiderte ich bestürzt, „Und Kai, was hat er getan?“
„Er war voll ausgerastet. Er hatte sich gleich eines der Messer geschnappt und wollte den Großen umbringen. Ben hatte alle Mühe Kai zurückzuhalten. Kai meinte nur, dass es ihm reiche, dass wir alle heute Abend verschwinden sollen. Wenn unsere Flucht später sowieso auffiele, könnten wir es auch gleich tun, war Kais Begründung.“
„Und was hat Ami gesagt?“
„Dass es nicht ginge, weil sie jetzt sowieso nicht laufen könne. Aber damit es schneller geht, benutzten wir meine Leiche für Silke noch einmal", erzählte Anna weiter.
„Nun, an sich ist sein Ansatz nicht verkehrt, ob es jetzt eine falsche oder gar keine Leiche von Ami gibt, macht eigentlich keinen Unterschied. Wenn sie fort ist, wird es dem Großen sowieso auffallen. Aber trotzdem sollten sie noch ein bis zwei Tage warten, zumindest bis Ami sich ein wenig erholen konnte. Ich werde es Ben morgen sagen, wenn er Silke bringt.“.
„Ich hoffe nur, dass Kai sich wieder einkriegt. Er schaut Ami ja nicht mal mehr an. Ich hab so Angst, dass das alles ihre Beziehung zerstören könnte. Sie sind doch so ein Dreamteam", sagte Anna traurig.
„Ich werde mit ihm reden, sobald ich die Gelegenheit dazu habe.“, ich nahm Anna in den Arm um sie zu trösten und dann waren wir auch schon an der Luke angekommen. Ich öffnete sie wieder mit größter Vorsicht und sah mich erst mal um. Es war in der Dunkelheit nichts Gefährliches zu entdecken. Ich half Anna rauf, und nachdem ich die Luke wieder verschlossen hatte, gingen wir sofort los. Wir waren gemeinsam viel schneller an dem Haus, in dem ich mich eingenistet hatte. Sie führte mich noch einen anderen Weg entlang, als jenen, den ich gestern eingeschlagen hatte. Daran erkannte ich, dass sie wirklich lange hier gelebt hatte. „Wo habt ihr denn früher gewohnt?“, wollte ich wissen. „Weiter unten im Dorf, an der Hauptstraße, aber wir waren früher oft hier und haben gespielt. Wenn wir mit den Dorfjungs unterwegs waren, haben sie sich mit Ästen bekämpft. Ami und ich waren Prinzessinnen, die von dem bösen Ritter entführt worden waren“, berichtete Anna in Erinnerungen schwelgend, „Das waren noch Zeiten, in denen wir Kinder noch mit Phantasie gespielt haben, nicht mit Konsolen oder Computern.“
Ich öffnete die Türe und ging gleich mit Anna in den Keller. Ich stellte wieder ein paar Kerzen auf die Kommode. „Wenn du müde bist, leg dich hin. Ich muss hier noch ein paar Kisten durchwühlen, hab bisher noch nichts Nützliches gefunden.“
„Nein, ich helfe dir.“
„Das ist lieb von dir. Ich werde mich morgen mal zu den Nachbarhäusern rüber schleichen, mal sehen, was ich da finden kann.“
„Ja, mach du nur", sagte sie, während sie sich eine Kiste schnappte und mir beim suchen half. Sie erzählte von ihrer Kindheit hier in dem Dorf und ich hörte aufmerksam zu. Es war, um einiges angenehmer jetzt wieder Gesellschaft zu haben. Nachdem wir drei Jahre auf engstem Raum miteinander gelebt hatten, waren mir die Stunden allein, wie eine Ewigkeit vorgekommen. Es war fast eine Qual gewesen, obwohl ich es doch eigentlich, von früher, gewohnt war, alleine zu sein.
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