Kaum anders als mit Lastern!? Trifft Immanuel damit den Nagel auf den Kopf?
Ja und nein, Harry ist geteilter Meinung. Gewiss, die abgenötigte Enthaltsamkeit ist unnatürlich , soviel ist sicher. Deshalb halten sich die jungen Leute ja auch gar nicht daran, heute so wenig wie früher. Haben Mann und Weib Lust aufeinander, haben sie jetzt kraft Pille auch jederzeit die Möglichkeit dazu. Alfi und Inga haben es bewiesen. Kein Anlass also zu Lastern.
Die Leute haben die reine Möglichkeit ! verbessert er sich, denn was ist mit denjenigen Jungen, die keinen gleichgesinnten Partner haben? Was ist mit denjenigen jungen Männern und Frauen, die allein in ihrem Fleisch sind? Denen nützt auch die Pille nichts, so dass für sie das Kantische Problem so aktuell ist wie vor zweihundert Jahren.
Was aber meint Kant mit ,Lastern'? Da ist er wenig explizit. Das ,Laster' ist vielleicht der Umgang mit den Prostituierten in den Freudenhäusern, wo man die körperliche Liebe kaufen kann. Dabei reichen die Mittel der Betroffenen meist aber gerade so wenig wie dafür, ein Weib zu ernähren, auch für den Besuch im Bordell! Das besagte Jahrzehnt einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit, die auf Dauer sowieso nicht einzuhalten ist – und auch gar nicht einsehbar ist, wieso sie überhaupt eingehalten werden sollte –, führt daher eher zu einem anderen, ebenso abgenötigten wie allgemein praktizierten Verhalten: der sexuellen Selbstbefriedigung. Freud nannte es Notonanie : diejenige Onanie, die aus der Not kommt, dass der Einzelne ohne Sexualpartner ist. Davon zu unterscheiden ist offenbar diejenige Onanie, die auch dann noch praktiziert wird, wenn es einen solchen Partner gibt. Ist also die Masturbation – ob nun abgenötigt oder freiwillig – das ,Laster', auf das Kant anspielt?
In seiner Philosophie des Unbewussten von 1869 kommentiert der Philosoph Eduard von Hartmann die Kantische Stelle: Wer aber wirklich ausnahmsweise sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei hält und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwindet, der hat in diesem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung, dem Zeitraum wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut, eine solche Summe von Unlust zu ertragen, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wiedergutmachen kann. Das Alter der Verheiratung der Männer rückt aber mit fortschreitender Kultur immer höher hinauf, der provisorische Zeitraum wird also immer länger und ist am längsten gerade bei den Klassen, wo die Nervensensibilität und Reizbarkeit, also auch die Qual der Entbehrung am größten ist. Da wäre es doch, wenn nicht gar menschenunmöglich, so doch jedenfalls höchst menschenfeindlich, wenn in dem Zeitraum der loderndsten sinnlichen Glut die Vernunft zu keinem besseren Zweck gebraucht werden sollte, als die Qualen der erregten Sinnlichkeit „in ewig erneutem Kampf zu überwinden“, anstatt dafür wenigstens halbwegs nach Ersatz zu suchen.
Ein Mann mit der loderndsten sinnlichen Glut und der größten Nervensensibilität und Reizbarkeit ist zweifellos er, Harry Heine! Es wäre daher höchst irrational, wenn er sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei halten und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwinden und in dem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung – dem Zeitraum, wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut – eine solche Summe von Unlust ertragen wollte, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wiedergutmachen könnte ...!
Dabei heiratet er auch gar noch nicht mit 25, sondern, was bei Intellektuellen gar nicht so selten ist, überhaupt erst mit 43, so dass bei ihm der Zeitraum von der Pubertät bis zum Leben mit Mathilde – der Zeitraum, wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, so doch der loderndsten sinnlichen Glut – nicht bloß zehn, sondern, bis er sie kennenlernt, annähernd zwanzig Jahre beträgt. Er strengt daher seine Vernunft auch gar nicht erst weiter vergeblich an. Wir sahen es an seiner Notonanie, und wie er manch zotenhafte Anekdote oder schlüpfrige Stelle aus dem Alten Testament, den Carracci-Zyklus und zahllose andere erotische Sujets der Arche Noä kraft poetischer Phantasie zu lebendiger Gegenwart erweckte. Wir sahen es beginnend bei Adam und Eva im Paradies, bei der Geschichte Lots und seiner Töchter, die er lebensnah reproduzierte; wir sahen es an der Geschichte Thamars und Juda's; David und Bathseba's; Susanna's im Bade; Judiths und Holofernes'. Wie sahen es, ins Literarische gewendet, an Ophelia und Horatio, an Kleists Marquise von O . und an Nabokovs Lolita . Diese und unzählige andere Episoden erweckt der junge Harry zu leidenschaftlichem Leben und zieht seine einsame Lust daraus. Ist das ein ,Laster', dann hat Kant wohl Recht mit seiner Behauptung. Wir zögern aber, es so zu benennen.
Ist das aber eine Lösung? Die sexuelle Selbstbefriedigung wirkt im Wesentlichen über die erotische Phantasie, und gewöhnt man sich an die sexuelle Selbstbefriedigung, dann konditioniert man sich auf die erotische Phantasie. Er begegnet der sexuellen Lust zuerst in der Onanie, und begegnet ihr desto intensiver, je größer und schneidender das Gefühl seiner Einsamkeit ist. Denn, so die Gefährlichen Liebschaften des Choderlos de Laclos: Die Einsamkeit steigert die Lust ins Ungeheuere .
Damit vergleichen Mann und Frau dann später aber auch ihre Lust beim realen Verkehr der Geschlechter. Die sexuelle Selbstbefriedigung ist wie eine Blaupause künftiger Lust: eine Schablone, ein Versprechen, das durch den wirklichen Beischlaf eingelöst und gar übertroffen werden soll. Der Einzelne in seiner verliebten Phantasie verwechselt seine einsame Lust mit der Lust, die er mit einer wirklichen Geliebten hat. Begegnen Mann und Frau sich dann erstmals sexuell, sind sie längst auf die ipsistische Phantasie geprägt.
Aber nicht nur während seiner einsamen Jugend befriedigt Harry sich selbst. Er tut es en passant auch noch in Paris bei seiner Liebe zu Morelle. Hat er sich nicht durch Lolita zu jugendgefährdenden Phantasien hinreißen lassen? Sogar in der Erwartung von Crescence noch bewahrte er seine Erotica aus dem Söller der Arche Noä.
Ja, sogar in seiner Ehe mit Mathilde noch identifiziert er sich mit Horatio, der von Ophelias nächtlichem Besuch wider Willen übermannt wird. Im Gedenken an Frisettes Cancan masturbiert er heimlich im Ehebett. Das heißt Freuds Begrifflichkeit weit überstrapazieren und ist keine ,Notonanie' im eigentlich freudianischen Sinne mehr. Was aber dann?
Onanie, die gar nicht abgenötigt wird, ist freiwillige, selbstgewählte, spontane Onanie. Onanie sogar noch in der Ehe. An einen solchen Gedanken aber wagten sich nicht einmal die Philosophen Kant und von Hartmann. Ist das vielleicht das Unnatürliche und also ein echtes Laster?
Ist die sexuelle Selbstbefriedigung durch die lange Einsamkeit konditioniert, dann erscheint es aber wieder als ganz verständlich und natürlich , wenn sie auch weiterhin praktiziert wird, und es wäre eher unnatürlich und erstaunlich, wenn sie von einem Tag zum andern einfach aufgegeben würde. Dies zumal dann, wenn man bedenkt, dass Henris Ehe kein Einzelfall ist, sondern, wie zuletzt der Film American Beauty zeigt, es auch noch in anderen Ehen so zugeht. Also auch hier wieder kein echtes ,Laster'.
Die Matura nennt man jetzt Abitur . Nach dem Abitur, als seine Klasse auf eine Autorallye geht, macht er eine Spanienreise, um nach dem andalusichen Flamenco zu recherchieren. Er begegnet Pepi und Loli in der Straße Ramón y Cajal und Marina, die aus Marokko herüber getrampt kommt, und hört zum ersten Mal von dem Stargitarristen Paco de Lucía.
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