Mit sechzehn beeindruckt ihn tief der Film La guerre est finie von Alain Resnais, wieder mit der hinreißend schönen Ingrid Thulin. Diego Mora, gespielt von Yves Montand, lebt als Mitglied der kommunistischen Partei Spaniens im Pariser Exil. Als Verbindung zwischen den spanischen Exilanten in Frankreich und den im Spanien Francos verbliebenen Genossen passiert er unter falschem Namen immer wieder die Grenze. Gerade geht er über Irún nach Frankreich. Bei einem heiklen Identitätscheck kommt er dank einer jungen Frau frei. Nadine, gespielt von Geneviève Bujold, ist die Tochter des Mannes, dessen Identität er fälschlicherweise annahm. Die junge Revoluzzerin ist so fasziniert von ihm, dass sie sich ihm beim ersten Treffen in ihrer Wohnung spontan hingibt – ein poetisch verklärend gefilmter, mit elegischer Musik unterlegter Liebesakt, der im beiderseitigen Orgasmus endet, bei dem der jungen Frau schier die Sinne schwinden. Wie Hedy und Ingrid hat es auch Geneviève darauf, wie man wollüstige Ekstasen simuliert. Danach nehmen sie voneinander Abschied, um sich, da Diego eine feste Geliebte hat, nicht wiederzusehen.
Yves Montand ist ein so überzeugender Verführer, dass man Nadine ihren Orgasmus durchaus abnimmt. Harry ist ziemlich von der Rolle: Also ist die freie Liebe doch möglich? Denn was Diego Mora in Paris kann, das kann ein anderer ein andermal natürlich auch in jeder anderen Stadt. Wie kann ein Mann eine so erotische Ausstrahlung haben, dass er ein Mädchen gleich bei der ersten Begegnung herumkriegt? Warum kann er , der sechzehnjährige Poet, das nicht? Warum ist das nicht auch mit Giselle oder Béa möglich? Warum kommt diese freie Liebe in seinem Leben nicht vor?
Betty, die die Szene später im Fernsehen sieht, nennt Nadine eine ,so eine Freche'. Sogar seinen Lehrer im Kunstunterricht, zu dem er ein besonders vertrautes Verhältnis hat, lotst er zu dem Film ins Kino und gesteht ihm seine pubertäre Verblüfftheit: dass er nicht versteht, wie man eine Frau so einfach verführen kann. Er empfindet seine Schüchternheit wie eine Art männlicher Unterlegenheit …
Viel später erst wird ihm klar, dass es nicht allein an seiner pubertären Unreife lag – es ist überhaupt sein Problem, die Anarchie des Blutes mit der vernunftgeordneten Einrichtung der Welt in Übereinstimmung zu bringen. Tatsächlich dürften solche One-night-stands im wahren Leben, zumal in bürgerlichen Milieus, eine extreme Seltenheit sein. Und es ist eher eine Verzerrung der Realität durch den Film, eine sexuelle Freizügigkeit zwischen Mann und Frau vorzuspielen, die es in Wirklichkeit so nicht gibt. Es ist eine pure poetic license in der Sexualmoral, welche sich die Regisseure erlauben. Aber nicht einmal sein gestandener Lehrer ist geistesgegenwärtig oder beschlagen genug, ihn über den Umstand aufzuklären. Dabei hätte er ihm viel hebephrenische Verwirrung ersparen können.
Tatsächlich nämlich glaubt Harry an Männer von derart erotischer Ausstrahlung, dass sie die Frauen buchstäblich um den Finger wickeln. Gibt es solche One-night-stands in La guerre est finie , dann kommen sie sicher auch sonst noch vor. Errol Flynn, Marlon Brando oder Berühmtheiten wie Pablo Picasso oder populäre Rockstars brauchen nur mit dem Finger zu schnippen, und schon haben sie eine. Ist aber seine Lust bei der einsamen, nur auf Illusion beruhenden Selbstbefriedigung schon so ungeheuer, – um wieviel größer müsste sie, folgert er, dann erst sein, wenn er eine wirkliche Frau besäße! Kommen diese Verführer ständig so auf ihre Kosten, dann ist er ihnen gegenüber unermesslich im Nachteil. Wer aber die Liebeslust versäumt, hat kein Leben. Die Vorstellung wird zu einer fixen Idee – einer jugendlichen Hebephrenie. Wann immer er von einem Mann hört, dem er eine solche Anziehungskraft zutraut, spürt er den Stachel Sexualneid in sich. Einmal bekommt er in einer Kaschemme mit, wie ein junger Kerl von dem amerikanischen Countrysänger Johnny Cash schwärmt. Schon dem Ton seiner Stimme glaubt er entnehmen zu können, dass es ihm mit solchen Männern genauso geht wie ihm selber.
Ein andermal glaubt er bei seiner alten Liebe Hanni dieselbe Bewunderung gegenüber einem verheirateten Religionslehrer zu bemerken und wundert sich fast, dass sie ihm keine sichtbaren Avancen macht. Offenbar traut er seiner Umwelt ungleich mehr Libertinismus zu, als zu welchem er sich selbst versteht.
Erst viele Jahre später erkennt er, dass weder eine solche erotische Anziehungskraft noch der entsprechende Libertinismus der Realität entsprechen. Die bürgerliche Welt ist, was sexuelle Liberalität betrifft, extrem konservativ. Kurzum, Renais' Liebesszenen sind künstlich stilisiert und übertrieben. Und nicht nur die seinen: Es ist überhaupt die poetic license des Films – und die Regisseure machen desto heftiger Gebrauch davon, je näher wir der Gegenwart kommen. Desungeachtet ist Yves Montand nicht von schlechten Eltern. Während des Drehs von Let's make love vernascht er Marilyn Monroe, die noch mit Arthur Miller, einem bedeutenden Dramatiker, verheiratet ist, von der Bettkante weg. Harry wundert sich über den mangelnden Respekt des Schauspielers gegenüber dem berühmten Dichter. Wusste er vielleicht, dass die Ehe der beiden nur noch auf dem Papier bestand? Auf die Frage von Reportern, wie sie dazu steht, meint seine Frau Simone Signoret nur: Marilyn habe einen guten Geschmack. Noch mit 67 macht er der 28jährigen Carole Amiel ein Kind, Valentin.
Ähnliches hört man von dem mexikanischstämmigen Anthony Quinn. Der hat von fünf Frauen 13 Kinder. Noch im Alter von 82 bis 86 hat er mit seiner früheren Sekretärin zwei Kinder. Harry denkt an Thersites in Troilus und Cressida : Nothing but lechery! All incontinent varlets! Nichts als Unzucht! Lauter geile Kerle!
Um zu testen, was er sich alles leisten kann, oder wie weit er gehen kann, bringt er ein Exemplar des Magazins Playboy eines Freundes mit in die Schule, in dem sich in einer Fotoserie die bezaubernde Silva Koscina, eine italienische Schauspielerin jugoslawischer Herkunft, nackt am Swimmingpool aalt. Gibt es eine reizendere Susanna oder Bathseba im Bade? Sein Zeichenlehrer weist ihn bestürzt darauf hin, dass er deswegen von der Schule geschmissen werden könnte. Harry wundert sich, weil ihm die antiken priapeischen Figuren aus dem Kunstunterricht, die den geilen Gott mit prall erigiertem Phallus zeigen, weit anstößiger scheinen als die bezaubernde Silva. Tatsächlich scheint es eher die allgemeine Bigotterie der Schule, wenn nicht die des Mentors, die solcherlei mit Sanktionen bedroht. Es ist eine fatale Sache, relegiert zu werden; sogar das bloße Konsiliiertwerden soll sein Unangenehmes haben .
Eine amerikanische Schauspielerin mit eindrucksvoller Oberweite, Jayne Mansfield, ruft einen internationalen Skandal hervor, als sie sich mit entblößten Brüsten am Michigansee zeigt. Sie stirbt am 29. Juni 1967 im Alter von 34 zusammen mit ihrem Verlobten bei einem Autounfall in Louisiana.
Doch hat sich an der Situation der jungen Leute seit Kants Anthropologie wenig geändert: Die erste physische Bestimmung unserer menschlichen Sexualität ist der Antrieb zur Erhaltung unserer Gattung, als Tiergattung. Hier treffen aber die Naturepochen unserer Entwicklung mit den bürgerlichen nicht zusammen. Nach der ersteren sind wir im Naturzustand spätestens in unserem 15-ten Lebensjahr durch den Geschlechtsinstinkt angetrieben und vermögend, unsere Art zu erzeugen und zu erhalten. Nach der zweiten können wir es (im Durchschnitt) vor dem 20-sten schwerlich wagen. Denn hat der Jüngling gleich früh genug das Vermögen, seine und seines Weibes Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch lange noch nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und Kind zu erhalten. Er muss einen Beruf erlernen, sich in Kundschaft bringen, um ein Hauswesen mit seinem Weib anzufangen, worüber aber in der geschliffeneren Volksklasse auch wohl das 25. Jahr verfließt, ehe er zu seiner Bestimmung reift. – Womit nun, fragt der Philosoph, füllen wir diesen Zwischenraum einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Seine Antwort: Kaum anders als mit Lastern.
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