Auf diesen Schock sank Margret auf einem nächstgelegenen massiven handgeschnitzten Stuhl nieder, der zwar keine Rückenlehne besaß, aber gleichermaßen gut gepolstert war wie jene aus dem Konferenzsaal.
Kaum dass Margret Platz genommen hatte, begann sich wie in Trance eine neue Gedankenspirale zu drehen, in denen die Worte: Unterwelt, Kutte, Alleine , immer wieder in die Tiefe rauschten. Sie hatte für einen kurzen Augenblick völlig vergessen, wo sie eigentlich war, die Aufregung Archimederius kennen zu lernen hatte sie vergessen lassen. Erst als sie mit einem Fühler von Hubertus angestupst wurde, wachte sie auf, wie aus einem Traum.
In diesem Moment regte sich ein Gefühl tief unten in ihrem Bauch, unbeschreiblich für diesen Moment, sodass sie von dem alten Stuhl festen Gesichtsausdruckes aufsprang, gegen ein Gerät stieß und es zu Boden fiel, die Hände zu Fäusten geballt und sich aus weiter Ferne sagen hörte: „Was genau muss ich tun?“
„Nicht so stürmisch, Margret!“, versuchte Hubertus zu beruhigen.
„Es ist richtig, unsere Reise, zur Rettung der Erde, wird wahrscheinlich in der Unterwelt beginnen. Jedoch ist ein Umweg von Nöten, den wir einschlagen müssen, um an diesen Ort zu gelangen. Niemand spaziert zum Ufer des Flusses, der zur Unterwelt führt. Niemand wird aus Höflichkeit vom Fuhrmann des Bootes gebeten an Bord zu steigen, um eine Überfahrt zu machen. Jeder, der dieses Reich betreten will, muss einen Tribut zollen und einen besonderen Gegenstand mitnehmen, um dem Fuhrmann sein Ableben gewissermaßen zu beweisen. Denn Aussehen und mitgegebener Reichtum allein sind dort nichtig.
Lange mussten wir nach der Antwort auf die Frage suchen, welchen besonderen Gegenstand der Bittsteller mitbringen muss, um den Fuß in den Kahn setzen zu dürfen. Glaub mir, es war nicht einfach, schließlich ist ein Betreten der Unterwelt sowohl für Tiere als auch für Lebende strengstens verboten.
Denn nur an diesem Ort findet die Seele Ruhe.
Der Gegenstand, um den es sich handelt, ist, wie wir herausfanden, kein lebloses Objekt, wie wir es anfänglich gedacht hatten. Es handelt sich vielmehr um ein Lebewesen, so wie die Smaragkäferlinger es sind, das zum Tragen einer Erinnerung auserkoren wurde. Es sind Libellen, die auf den Feldern von Squirilion leben, wobei eine jede von ihnen eine Erinnerung in sich trägt. Es sind Erinnerungslibellen.
Alles, was wir bis jetzt wissen, ist, dass wir zu den Feldern von Squirilion und deren Beschützern, den Squirels, reisen müssen, um eine solche Libelle zu bekommen.“
Margret verbrachte noch einige Stunden bei dem Gelehrten, der sein kleines Reich ebenso schätzte, wie sie ihres unterm Dach.
Bei ihm, so war es ihre Empfindung, machte das Lernen von Geschichtszahlen viel mehr Spaß als bei Master Crispin.
Während ihren Gesprächen reisten sie quer über die Oberfläche der Welt, mit dem Finger auf den alten Landkarten und dem Wissen Archimederius‘ lebte Margret die Geschichte förmlich. In wilden Bildern zog sie vor ihrem inneren Auge vorbei.
Hubertus und Prinz Magnus waren derweilen wieder in die oberen Stockwerke des Smaragdschlosses zurückgekehrt, da der Prinz noch einige unaufschiebbare Aufgaben zu erledigen hatte.
Unterdessen führte Archimederius sie in die Geheimnisse der kleinen Dinge ein, die er in ihre Tasche gepackt hatte.
Eigentlich waren es nur zwei schlichte Dinge.
Ein Flasche, gefüllt mit Wasser aus der Smaragdschlossquelle, das durch die verschiedenen Mineralien und den Zauber, der der Quelle zugeschrieben wird, nicht nur reines Wasser ist. Es versiegt nie. Es ist reinstes Lebenselixier.
Und als Zweites eine unscheinbare gläserne Kugel.
Eine grüne durchsichtige Flüssigkeit befand sich in dem gläsernen Gefäß, die, wenn Archimederius sie gegen das Licht hielt, von feinen glänzenden Schlieren durchzogen wurde.
„Dies ist neben den zahlreichen Pergamenten der kostbarste Teil meiner Sammlung, doch nun sollst du es mit auf deine gefährliche Reise mitnehmen. In der Kugel befindet sich einer der kostbarsten Flüssigkeiten, die wir besitzen, jene glühende Substanz, die sich in unseren Leuchtperlen befindet.
Es heißt Tamalin.
Es ist ein großes Opfer, das ein Smaragdkäferlinger erbringt, wenn er es hergibt, denn diese Materie in den Leuchtperlen aufzufüllen, dauert mehrere Jahrhunderte. Das Tamalin ist für uns so wichtig, wie für dich dein Blut. Es ist unser Lebenssaft. Solltest du einmal in alles verschluckender Schwärze deinen Weg nicht finden, so halte diese Kugel in deinen Händen. Du musste sie nur ganz sanft berühren. Sie wird dann erwachen und ihr Licht aussenden, dass du einen Weg hinaus finden magst. Es funktioniert jedoch nur einmal für eine lange Zeit, bedenke also gut, wann du diese Kugel benutzt.“
Margret war sehr erstaunt, sie konnte das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wurde, kaum in Worte fassen.
„Dann weißt du auch, wie wertvoll deine Fracht sein wird, es ist von größter Wichtigkeit, dass niemand davon erfährt, während du damit unterwegs bist. Doch ich könnte es mir nicht verzeihen, falls dir etwas zustoßen sollte, aus diesem Grund werden das Quellwasser und die Kugel mit dir an jeden Ort reisen, an den auch du gehen wirst. Und wo dies sein wird, das wissen nur die Sterne“, endete Archimederius.
„Da wir nun alles soweit geklärt haben und ich mit einem Blick auf meine Sanduhr feststelle, ist es eindeutig Zeit für unser Abendessen. Die Damen aus der Küche werden wahrscheinlich schon wieder ihre ganze Pracht der Smaragdkäferlinger Kochkunst aufgefahren haben, besonders da dich Hubertus auch noch groß angekündigt hat.“ Den Rest hatte Margret gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, denn sie schaute verwundert auf die gläserne Kugel, in der der Sand unablässig von der Mitte oben an den Seiten hinabfloss, sich in der Mitte unten wieder sammelte, um danach wieder in einer Säule aufzusteigen.
Archimederius bemerkte Margrets Interesse an seinem Stundenglas.
„Das ist Zeitsand oder auch Stundensand. Er weiß immer, welche Stunde es schlägt, er geht genauer als so manche Standuhren und muss auch nicht aufgezogen werden. Sein Geheimnis habe ich ihm bis jetzt noch nicht entlocken können, nur eins weiß ich ganz gewiss, dass dieser Sand sehr alt ist und aus der Gegend der Sümpfe von Boloir stammt“, gab er ihr eine Antwort und schob sie ungeduldig wie ein kleines Kind aus dem Zimmer, hinauf durch den dunklen Gang in ein bezauberndes Zimmer, in dem es bereits köstlich nach Essen duftete.
Den restlichen Tag verbrachte Margret mit Hubertus, der mit ihr nochmal den Plan für den morgigen Aufbruch durchging und versuchte so gut, wie es ihm möglich war, Margrets Fragen zu beantworten.
Hauptsächlich ging es dabei um das Leben der Smaragdkäferlinger und deren lange Geschichte und über die Zeit vor der unnachgiebigen Dunkelheit.
Danach machten sich Hubertus und Magnus auf Margret in ihr Zimmer zu geleiten, in dem sie auch aufgewacht war. Beide wünschten ihr eine gute Nacht und schöne Träume.
„In einem Bett mit Blick auf den Himmel, schläft es sich am besten“, hörte sie nur noch Hubertus sagen und versank in einen tiefen ruhigen Schlaf.
Der folgende Morgen begann mit einem kurzen Frühstück in einem der riesigen Räume des Schlosses. Margret und Hubertus gingen danach noch einmal zu Archimederius, der damit beschäftigt war, an einem seiner vielen Gerätschaften zu hantieren. Schließlich waren noch die Tasche, die für sie bestimmt war, und ihre Kutte bei Archimederius abzuholen.
Zur Begrüßung hob er den Kopf, erwiderte: „Schön, dass ihr nun beide vorbeikommt“, und verschwand wieder hinter seine Apparaturen, um an kleinen feinen goldenen Schrauben zu drehen.
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