Die Sonne ging in einem leuchtenden Rot unter, und bald würde es Nacht. Gerne wäre sie noch einmal an die Steilküste gegangen. Das Rauschen des Meeres hätte ihre Fantasie vielleicht beflügelt und das Aparte in ihr entpuppt. Wenn es schon keinen Prinzen gab, der sie küsste, dann könnte aus ihr als kriechender behaarter Raupe mit Glück vielleicht dennoch ein wunderschöner Schmetterling werden. Doch in der Dämmerung und der nahenden Dunkelheit traute sie sich nicht, an die Steilküste zu gehen. Die Einsamkeit, die sie sonst so liebte, flößte ihr nun Furcht ein. Es war lange her, dass sie alleine in der Dunkelheit spazieren gegangen war. Wohl über dreißig Jahre. Seit der Hochzeit hatte sie in der Dunkelheit immer einen Begleiter gehabt, ihren Ehemann, oder sie war zu Hause geblieben. Oder Monika war bei ihr gewesen. Vera entschloss sich, in ihr Apartment zu gehen. Bei einer Flasche Rotwein würde ihr sicherlich etwas einfallen. Ihr Apartment war in der Rua Barranco.
Nachdem sie ihren Stift bezahlt hatte, verließ sie den Zeitschriftenladen, der nicht weit von ihrem Apartment entfernt war. Sie war gerade ein paar Schritte gegangen, als sie hinter sich eine männliche Stimme hörte.
„He, Sie! Sie haben Ihre Zeitschrift im Laden vergessen!“
Vera fiel auf, dass sie die „Entdecken Sie Algarve“ nicht mehr in der Hand hatte. Da waren nur noch Briefpapier, Briefumschläge und Stift. Sie drehte sich um und sah einen kleinen schwarzhaarigen und braun gebrannten Mann. Er war ein Portugiese, vermutete sie. Er strahlte, als er merkte, dass sie anhielt, und streckte ihr die Zeitschrift entgegen.
„Die Frau im Laden sagte, dass die Zeitschrift Ihnen gehört“, sagte er.
„Ja, danke. Nett von Ihnen, mir die Zeitschrift zu bringen.“
Vera setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.
„War mir ein Vergnügen, sehr verehrte Dame.“
Vera nahm die Zeitschrift und lächelte noch einmal. Dann drehte sie sich um und ging. Der freundliche Portugiese folgte ihr.
„Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“, fragte er.
„Nein, danke. Es war nett von Ihnen. Doch jetzt habe ich keine Zeit mehr“, antwortete Vera. „Woher können Sie so gutes Deutsch?“
„Ich habe ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet. In Köln.“
„Schön. Es war nett, Sie kennen gelernt zu haben. Auf Wiedersehen“, sagte Vera und beschleunigte ihren Schritt. Doch der Portugiese schien sich nicht entfernen zu wollen und hielt im Schritt mit.
„Ich heiße Antonio.“
„Ich nicht“, antwortete Vera kurz und ließ ihn endgültig stehen.
Sie war vor dem schmalem Haus in einer langen zweistöckigen Häuserzeile, in dem sie ein Apartment gemietet hatte, angekommen und verschwand schnell im Flur. Sie lief die Treppe hinauf, bis sie im zweiten Stock ihr Apartment erreicht hatte, ging hinein und schloss die Tür hinter sich zu. Jetzt fühlte sie sich sicher. Ihr Apartment hatte für portugiesische Verhältnisse eine gute Ausstattung. Es hatte eine kleine Elektroheizung aus Keramik und Schamott, die ihr an den Abenden eine wohlige Wärme spendete. Bei der Suche nach einer kleinen Wohnung hatte Vera besonders darauf geachtet, dass die Zimmer heizbar waren. Aus vielen Aufenthalten im Süden Europas während des Winters oder im Frühling hatte sie gelernt, dass man in diesen sonnigen Gegenden abends in den Häusern durchaus frieren konnte. Es fehlten die Heizungen, und die Häuser waren schlecht isoliert. Aus den wohl temperierten Wohnungen Deutschlands kommend, hatte sie so manches Mal feststellen können, dass man nirgendwo im Winter so gut frieren konnte wie im Süden, obwohl der Frost fehlte.
Auch jetzt stellte Vera die Heizung an. Denn die Nächte im April konnten an der portugiesischen Atlantikküste noch sehr kühl sein. Sie ging an ihre Küchenzeile, um sich einen schwarzen Tee aufzubrühen. Dann bereitete sie sich einen kleinen Salat aus Tomaten, Zwiebeln, Essig und Öl zu und würzte ihn abschließend mit Salz und Pfeffer. Leider hatte sie noch keinen Basilikum in den Gemüseläden gefunden. Aber die Tomaten und Zwiebeln waren so schmackhaft, dass ihr der Salat auch ohne die Kräuter schmeckte.
Während sie aß, kam ihr wieder die Stellenanzeige in den Sinn. Gesucht wurde eine aparte, freundliche Dame zur Gästebetreuung. Sie dachte an die Engländer, den Norddeutschen und den Portugiesen. Anstatt ihre Bewerbung zu schreiben, hatte sie in kurzer Zeit genügend Zeugen produziert, die sich schwer tun würden, ihr Freundlichkeit zu bescheinigen. Vera zweifelte, ob sie für die Gästebetreuung geeignet war. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit ihrer aufdringlichen und auch frechen Art bei anderen aneckte. Letztendlich war auch das endgültige Zerwürfnis mit ihrem Mann auf ähnliche Vorkommnisse zurückzuführen. Auch wenn seine Unnachgiebigkeit alles verschlimmert hatte, wie Vera meinte. Sie erinnerte sich noch gut an jeden einzelnen ihrer ängstlichen Atemzüge, als eines späten Morgens die Polizei vor ihrer Tür gestanden hatte. Ihr hatte jeder Mut gefehlt, die Tür zu öffnen. Als ihre stets hilfsbereite Nachbarin dann noch gemeint hatte, der Polizei helfen zu müssen, nahm das Unglück seinen Lauf.
„Häufig geht sie morgens Einkäufe machen, holt dann ihren Mann von der Firma ab, und beide gehen irgendwo zusammen essen“ hatte die Liebe geflissentlich gesagt.
Vera war damals sofort klar gewesen, dass die Polizei bei ihrem Mann nachfragen würde. Vollkommen richtig beschrieb ihre Nachbarin dann die Firma ihres Mannes und den Weg dorthin. Durch die tatkräftige Mithilfe ihrer Nachbarin war ihre Haustür nun frei geworden, von der Hausbesetzung der Uniformierten befreit. Doch jetzt gingen sie zu ihrem Mann in die Firma. Vera hatte damals sofort geahnt, was das bedeutete. Zu Hause würde Schlechtwetter aufziehen. Gewitter, Donnerschlag und Blitz. Der Blitz schlug auch ein. Doch dass er das Haus abbrennen würde, hatte sie nicht geahnt. Jetzt war sie allein in Portugal.
Damals hätte sie am liebsten die Tür verschlossen, als er abends nach Hause kam. Doch leider hatte sie vor Jahrzehnten die Entscheidung getroffen, mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Zwangsläufig hatte er damit auch einen eigenen Haustürschlüssel. Sie hörte, wie er seine Aktentasche in den Flur schmiss, und ahnte, was kommen würde.
Also hatte sie sich in die Zeitung vertieft, als er die Wohnzimmertür öffnete.
„Benimm dich nicht wie unsere Kinder, als sie noch klein waren. Auch wenn du die Hände vor die Augen hältst, kann ich dich trotzdem sehen. Was meinst du, welchen Besuch ich heute in der Firma hatte?“
Sie hatte beharrlich geschwiegen.
„Die Polizei war bei mir. Doch eigentlich wollten sie gar nicht zu mir. Sie wollten zu dir!“
„Zu mir, warum denn?“
„Ich glaube, das weißt du genau. Schließlich haben sie dir schon geschrieben, dass du einmal vorbeikommen solltest. Stimmt das?“
Er hatte einen beißenden Ton angeschlagen, so dass Vera meinte, antworten zu müssen.
„Ach so. Das meinst du“, hatte sie desinteressiert erwidert.
„Das meine ich. Gegen dich liegt eine Anzeige wegen Belästigung vor. Stimmt`s?“
„Das ist übertrieben“, hatte sie ihm kurz geantwortet.
„Übertrieben? Die haben mir erzählt, dass der Wunderknabe im Fernsehen, der Schwarm aller Frauen, der, der die Show am Samstagabend moderiert, dich wegen Belästigung anzeigen will. Er hat die Polizei gebeten, mit dir zu reden. Falls du geständig und - ich betone – reuig sein solltest, will er von einer Anzeige absehen. Darum wollte die Polizei mit dir reden. Was sagst du dazu?“
Er hatte sie so herausfordernd angesehen, dass sie keine Chance mehr gesehen hatte, sich unwissend zu stellen.
„Na ja. Der Kerl übertreibt. Zugegeben. Ich fand ihn einfach hinreißend. Da habe ich ihm ein paar Mal geschrieben, habe die Hotels herausgefunden, in denen er jeweils abstieg, ihn hin und wieder angerufen und so. Er soll sich nicht so aufregen, sondern sich freuen, dass er den Frauen gefällt.“
Читать дальше