„Das ist doch immer so“, erwiderte ich.
Der Uropa lachte. „Du bist mir ein Besserwisser! Hier ticken die Uhren anders. Der Stand der Sonne bestimmt die Zeit. Manchmal sieht man sie nicht einmal. Du musst vieles neu erlernen. Wenn du dich als klug erweist, bekommst du vielleicht mein Erbe!“
„Ist es wertvoll?“, spottete ich und blickte mich in der Stube um. Reich an Pelzen, Totenschädeln und Hörnern war er ja …
Uropa musterte mich von oben bis unten.
Eine schwarze Ziege steckte ihren Kopf durch ein Gatter in den Raum. Ich hatte diese bisher nicht bemerkt. Sie hatte wohl die ganze Zeit über geschlafen oder still im Stroh gelegen. Misstrauisch beäugte sie den neuen Gast.
„Äußerst wertvoll!“, verkündete er gewichtig und kratzte sich die Haare an einer Stelle, die ich lieber nicht beschreiben möchte. Dann ging er zur Ziege und kraulte dieser ihren kleinen schwarzen Bart.
„Woraus besteht es denn?“, hakte ich neugierig nach. Waren es die dürren Büffel, die vor dem Haus weideten oder diese grandiose Immobilie?
Der Greis begann mich zu amüsieren. Wohlhabend sah der nun wahrlich nicht aus.
„Aus Wissen!“, murmelte er geheimnisvoll und gab der Ziege einen Kuss auf den Mund. Diese leckte ihm genüsslich mit ihrer spitzen langen Zunge das Gesicht ab.
Jetzt könnte ich vor Lachen auf seine Trommeln schlagen. Wenn hier einer über Wissen verfügte, dann ich. Millionen von Buchseiten waren in meinem Gedächtnis abgespeichert.
Eine neuerliche schallende Backpfeife beendete meinen Hochmut. Sie schmerzte schon. Ich wollte sie ihm fast zurückzahlen.
„Jeder Schamane gibt sein Erbe nur an den einzigen Geeigneten weiter. Unsere Kenntnisse liegen jenseits dieser Welt und gehen über jede Wissenschaft hinaus. Ich weiß nicht, ob du was taugst. Du wirkst eingebildeter als jeder Ziegenbock in der Brunst.“
„Oh!“, hauchte ich äußerlich erstaunt, aber in meinem Bauch kollerten Lachsalven über meinen Urahnen. Da er mit mir verwandt und zudem alt war, gab ich mich jedoch höflich. Es war unser erstes Beisammensein.
„Man schlägt übrigens seine Kinder heutzutage nicht mehr!“, versuchte ich weiteren Schlägen vorzubeugen.
„Entschuldige, aber ich dachte, man lügt auch nicht mehr seine Familienangehörigen an!“
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein gebildeter Amerikaner dieses angebliche Schamanenhokuspokus ernst nahm. Der Kerl war sicher vollkommen verrückt, redete sich vielerlei Schwachsinn ein und glaubte an das unsinnige Zeug, was er hier machte. Womöglich sprang er eines Tages in der Gewissheit von einer Klippe, dass ein Windgeist ihn auffangen würde. Mein Gott, wir lebten im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Wissenschaft! Ich würde der Welt in kurzer Zeit sogar beweisen, dass jeder mit Hilfe der Mathematik und Logik seine große Liebe finden kann. Meine Gleichung würde das Ergebnis liefern. Dann brauchte man nur noch zu der jeweiligen Person hingehen und schwups, das war es, das große Glück. Dieses ungewisse Gesuche und Durchprobieren verschiedener Kandidatinnen gehörte dann der Vergangenheit an. Meine Vollkommene wäre der erste lebende Beweis.
Das behielt ich natürlich vorerst alles für mich. Ich wollte ihn nicht kränken und auch keine weiteren Schläge einstecken. Außerdem waren die Wirkung seiner Wundermedizin und sein jugendlicher Körper schon verwunderlich. Das musste noch genauer untersucht werden. War er wirklich mein Urgroßvater und nicht dessen Sohn?
Das Leben mitten in den Tiefen des Waldes war natürlich ganz anders als im Stadtzentrum von Manhattan – wie der Sprung von der Renaissance zurück in die Steinzeit. Hier zählte schon ein Klo zum Luxus! Es gab keins. Für den großen oder kleinen Toilettengang musste man nach draußen gehen und dabei noch aufpassen, dass einem kein Wolf in den Nacken sprang. Von denen gab es recht viele in der Gegend. Ihr schauerliches Geheul ersetzte die Musik.
Die schwierigen Umstände, das tägliche Holzhacken, die Versorgung der Büffel, des Ziegenbockes und die umständlichen Toilettengänge verkomplizierten mein eigentliches Ziel, die Suche nach der Allervollkommensten selbstverständlich. Häufig jagte mich mein Uropa auch hinaus, um eine Büffelkuh zu melken. Das mochte ich gar nicht, da die Viecher nach mir traten und nie still standen.
Mein rüstiger Gastgeber verbot mir, wie Mama es gefordert hatte, leider auch die Mathematik. So konnte ich nur heimlich im Kopf rechnen. Das minderte jedoch meine glühende Liebe nicht. Mein junges Herz schmachtete weiter.
„Hast du etwa Heimweh?“, fragte mein Urgroßvater mich manches Mal, wenn ich vor Sehnsucht leise seufzte.
„Vielleicht“, erwiderte ich ausweichend. „Das Leben ist hier so anders.“ Ich dachte an mein schönes Zimmer und an Grace, dann aber auch an den hinterhältigen Liebhaber meiner Mutter, der mich aus dem Haus vertrieben hatte.
„Du bist doch kein kleines Mädchen. Sei einfach ein Mann. Das sind vielleicht Dämonen, die dich jagen!“, vermutete er und kraulte dem Ziegenbock nachdenklich den Bart „Da muss man vorsichtig sein. Ich zeig dir, wie du sie bekämpfst“, bot er an. Das war offenbar sein Element. Er wirkte energiegeladen.
Schamanische Gesänge und das Drangsalieren kurioser Trommeln sollten mir angeblich helfen. Er brachte mir eifrig Rhythmen und etwas unverständlichen indianischen Kauderwelsch bei, den ich brav wie ein Papagei nachplapperte. Ich wollte ihm auf diese Weise sein Misstrauen nehmen und um meinen Finger wickeln. Man musste langfristig denken.
„Es ist wichtig, dass du an deine Fähigkeit glaubst. Trance und Hypnose sind wie Bruder und Schwester“, lehrte er in Meistermanier. „Man muss bei der Trance sich oder bei der Hypnose den anderen öffnen. Die schamanische Täuschung ist dabei eine geheime Technik. Sie wird nur von Mund zu Mund, vom Meister zu einem besonders geeigneten Schüler weitergegeben. Trommel, Gesang und irrtierendes Geschrei sind Hilfsmittel. Das Unterbewusstsein ist ein magischer Ort. Nur dort gibt es Ruhe und Klarheit, Gewissheit über Vergangenes und Zukünftiges.“
Innerlich lustlos, jedoch nach außen eifrig schlug ich auf diese Art die Zeit tot. Was sollte man hier sonst auch tun? Ich war also für ihn so etwas wie sein Meisterschüler, dem er seine unwissenschaftlichen Geheimnisse verriet. Das war doch schon mal etwas. Zudem bewahrte mich diese Beschäftigung vor der Plackerei mit dem Brennholz und den Rindern. Mein Lehrer verschonte mich und machte sich selbst an die Arbeit, wenn er mich fleißig üben sah.
„Das wird schon Percy!“, ermunterte er mich. „Alles braucht seine Zeit!“
Als ich an einem der vielen nutzlosen Tage so vor mich hin sang und rhythmisch den hölzernen Klöppel dazu gegen das Leder hieb, schwebte urplötzlich mein Geist wie auf einer Wolke und beobachtete mich quasi von oben. Alle Gedanken flogen einfach davon und eine ungewohnte Leere breitete sich wohlig in mir aus. Einen solchen Zustand hatte ich noch nie erlebt.
Oje, verlor ich mein ganzes Wissen, wurde ich dumm? Im ersten Moment erschreckte mich dieser ungewohnte Zustand sogar, dann genoss und untersuchte ich ihn. Der Körper fühlte sich leicht wie Watte an, als hätte er kein Gewicht oder gehörte zu einem anderen. Es war ein Zustand frei von allen Sorgen und Schmerzen. Selbst das Leid meiner unerfüllten Liebe vergaß ich. Während dieser spontanen Entrücktheit kam ich mir ungeheuerlich erhaben und rein vor. Genüsslich gab ich mich ihr hin. Es war das erste Mal, das ich die Wirkung einer Trance erlebte. Einfältig, leer, jedoch glücklich…
Da mir diese Unbeschwertheit und die Gelöstheit vom Blei der Gedanken und Gefühle erstaunlich wohl taten, übte ich nach diesem ersten Erlebnis einer Trance fortan mit mehr und ehrlichem Eifer. Ich wurde neugierig. Immer tiefer versank ich bei meinen Übungen in die meditativen Klänge, so wie einst in meine geliebten Zahlenketten. Wie im Traum tauchten verschwommene Bilder mit Menschen und fremden Landschaften auf. War das ein Mädchen? Was leuchtete in dessen Hand? Mein Herz klopfte ahnungsvoll. Kam ich auf diese Weise meinen geheimen Wünschen, also der Allervollkommensten näher?
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