„Du Tattergreis lebst schon ein Jahrhundert und verstehst das nicht“, erwiderte der Priester frech. „Ich liebe die Salons, den Whisky, die Frauen … Das kostet nun einmal etwas!“
Der Mann sollte über hundert Jahre alt sein? Dann musste es doch mein Urgroßvater sein. Wie war das möglich? Bestimmt gab es dafür eine wissenschaftliche Erklärung … ganz sicher. Fleisch und Fisch blieben ja auch in der Kälte länger frisch. Vielleicht konservierte die Bergluft hier Menschen.
„Alter, bist du jetzt einverstanden?“, hakte der Besucher nach.
„Nenn mich nicht Alter! Ravenhort, du hast mich schon einmal hintergangen und ich vertraue dir nicht. Schreib einfach die Wahrheit an den Präsidenten!“
„Dessen Sohn stirbt ohne die Medizin!“ Der Mönch setzte auf Mitleid.
„Schreib dem Präsidenten!“ Murmelte mein sportlicher Urgroßvater.
Ravenhort hob die Faust und drohte.
„Wehe dir, ich kann auch anders! Was wird die Kirche dazu sagen, dass du nicht alterst? Du musst schon weit über hundert sein und siehst jünger aus als ich. Das ist wider Gottes Schöpfung! Man wird dich für diese Hexerei hängen, wenn ich es an der richtigen Stelle erzähle!“
Jetzt hatte ich keine Zweifel mehr. Dieser nackte Medizinmann war doch mein Urgroßvater. Was für eine Sensation. Mir blieb die Spucke weg. Scheinbar boten die Black Hills doch einige Überraschungen.„Pass du lieber vor mir auf!“, drohte der Schamane seinerseits.
„Was willst du denn machen? Ich glaube nicht an deinen Hokuspokus, der hat auf mich keine Wirkung!“
„An die Medizin glaubst du aber schon?“, schlug ihn der junge Alte mit Logik. Er erhob sich zur vollen Größe und nahm seine Maske ab. Ein etwa fünfzigjähriges Gesicht tauchte auf.
Ich betrachtete seinen Körper genauer. Mein Urgroßvater war deutlich kleiner als ich, recht schmutzig und ohne jegliche Kleidung. Das, was da zwischen seinen Beinen hing, war beschämend, außerdem viel zu lang und dick. Ihn schien die unanständige Blöße aber keineswegs zu stören. Auch Ravenhort war das wohl gewohnt.
„Nicht deine Wunderkraft heilt den Jungen, sondern meine Medizin“, beharrte mein Verwandter.
„Ist das dein letztes Wort?“, fragte der aufgebrachte Besuch und schob drohend seinen Oberkörper vor.
„Ja! Und wasch dir endlich deine Hände im Fluss!“, drängte der Hausherr. „Sonst stirbst du schon vor dem Morgengrauen!“
„Du wirst schon sehen, was du davon hast!“, geiferte Ravenhort und spuckte abschätzig auf die Maske.
„Beleidige die Geister nicht!“ Der Schamane stampfte seinerseits wütend mit dem Fuß auf. Die Wurst zwischen seinen Beinen schwang dabei wild hin und her.
„Es gibt nur einen Gott!“, höhnte der Mönch und schupste den vitalen Greis so, dass dieser mit dem nackten Hintern in das Feuer plumpste und vor Schmerz schreiend aufsprang. Dabei entfiel ihm klimpernd der Geldbeutel.
„Du bist also nicht unempfindlich gegen Schmerzen“, stellte sein Angreifer zufrieden fest. Er griff sich schnell so viele Münzen, wie er finden konnte und verließ er den Raum. „Warte nur!“, zischte er dabei wütend. „Wir sehen uns wieder!“
Der Schamane, der offenbar mein Urgroßvater war, humpelte jammernd in eine Ecke des Zimmers. Wollte er seine Brandwunden versorgen? Dort schob er eine Truhe beiseite und kroch durch ein großes Loch in der Wand hinaus. Ein geheimer Raum musste sich dort befinden. Was verbarg sich in diesem?
„Das tut verflucht weh!“, hörte ich ihn jammern.
Nach einer Weile kehrte er zurück und blickte verblüfft, geradezu fassungslos zu mir. Er hatte mich entdeckt.
„Hallo Uropa!“, rief ich inzwischen sitzend von meinem Lager aus.
Verschreckt sprang der alte Mann hoch, als wäre er urplötzlich auf einen Stachel getreten. Die Stimme blieb ihm im Hals stecken. Mein Urgroßvater zitterte an allen Gliedern, wirklich an allen. Er rechnete vielleicht mit dem Besuch vom Teufel oder von indianischen Dämonen, aber mit mir hatte er nicht gerechnet.
„Wer bist denn du?“, stieß er um Fassung ringend keuchend hervor. Er griff sich ein Tomahawk.
„Ich bin dein Urenkel!“ Mein Oberkörper verbeugte sich höflich, aber die nassen Stiefel quietschten spöttisch dazu.
Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Was willst du hier?“
„Nun ja“, begann ich zu erklären. „Mama schickt mich. Schöne Grüße auch. Ich soll hier eine Kur machen.“
„Eine Kur? Was ist denn das für ein Unsinn? Niemand kurt hier.“
Da hatte er sicher Recht.
Ich reichte ihm spöttisch den Brief, den Mutter mir mitgegeben hatte.
„Da sind wir sicher einer Meinung!“
Uropa öffnete ihn. Ein dickes Bündel Geldscheine und ein Blatt Papier steckten darin. Die Sprache von Ersterem schien er durchaus zu verstehen, die schriftlichen Zeichen von Letzterem brachten jedoch ein rätselndes Runzeln auf seine Stirn.
„Soll ich vorlesen?“, fragte ich hilfsbereit.
Uropa sah mich erstaunt an. Die Falten über seinen Brauen wurden noch tiefer. „Vorlesen?“
„Ja, genau! Ich kenne das Alphabet.“
„Du bist wohl das Wunderkind aus Manhattan?“, stellte er nachdenklich fest.
Offenbar wusste er doch etwas von mir.
Er lachte nun. „Na dann lies ruhig vor!“
Der Dummkopf war also, wie ich vermutet hatte, ein Analphabet. Konnte es schlimmer kommen? In dem Schreiben bat Mama ihn, mich mit dem ganz einfachen Leben vertraut zu machen und mich unbedingt von der Mathematik fernzuhalten. Ich änderte natürlich beim Vortragen den Inhalt des Briefes flugs so, dass mein Gastgeber mich verwöhnen und besonders die Beschäftigung mit der Wissenschaft unterstützen sollte. Die Stelle, an der sie über meine angebliche Verrücktheit schrieb, ließ ich ganz aus. Zufrieden mit der Verdrehung gab ich ihm den Brief zurück. Mich erwartete vielleicht doch eine erträgliche Zeit. Bald würde ich alles über die Allervollkommenste wissen. Mein liebendes Herz pochte erneut aufgeregt gegen die Brust.
Mein Großvater besah sich das Blatt interessiert. Man konnte fast denken, er lese. Der naive Halbindianer staunte wohl, was man mit Buchstaben alles aufschreiben konnte. Plötzlich gab mir seine Hand eine schallende Ohrfeige. Vor Erstaunen spürte ich nicht einmal den Schmerz.
„Unterschätze nie den anderen! Heißt es nicht: Du sollst nicht lügen?“
Ich errötete vor Scham. Der gerissene Fuchs hatte mich hereingelegt. Er konnte lesen. Zurückschlagen durfte ich nicht, er war ja mein Urgroßvater. Zumindest verbot es mir die eigene Moral. Irgendwie hatte er mich auch gut über den Tisch gezogen. Das hätte von mir stammen können.
„Wieso siehst du so jung aus?“, ging ich von meiner Verfehlung ablenkend in die Offensive.
„Das Leben in den Black Hills ist vielleicht gesünder als die Großstadtluft“, gab er schelmisch zurück und lenkte mit einer anderen Frage geschickt von der eigentlichen Sache ab: „Wie alt bist du eigentlich? Ich hätte nie gedacht, dass du schon so groß bist.“
Wir waren also gleichermaßen gerissen und mussten verwandt sein.
„Ich bin gerade achtzehn Jahre alt geworden. Wie alt bist du?“, übernahm ich wieder das Zepter. Unser erstes Gespräch verlief so, als kreuzten zwei Fechter die Degen.
Mein Urgroßvater antwortete nicht und rieb sich eine Salbe auf die Blasen an seinem Hintern. „Hast du den ganzen Streit belauscht?“, fragte er nach und beäugte mich nachdenklich.
„Zumindest den Schluss. Hat deine Medizin dem Präsidentensohn wirklich geholfen?“
„Es scheint so. Ravenhort hat sie heimlich einer kranken Frau gestohlen, die sie von mir hatte. Richtig eingesetzt kann sie zwar heilen, aber wenn man sie zu hoch dosiert, ist sie äußerst gefährlich. Deswegen darf das Mittel keinesfalls in falsche Hände gelangen!“
Читать дальше