Wie großzügig … Gastfreundschaft erster Güte!
Aber diese Abwechslung kam mir auch recht. Mehr als drei oder vier Wochen war ich bereits in der zugigen Hütte eingesperrt. Sie umgab mich wie ein Gefängnis. Der Schamane, die Ziege und die zwei Hühner waren die einzigen Lebewesen, die mir Gesellschaft leisteten. Na ja, beim Kacken weideten noch die Büffel in der näheren Umgebung. Das war aber wirklich alles.
Urgroßvater setzte sich ans Feuer und schmökerte in einem Buch mit mir unbekannten Schriftzeichen.
„Ich brauche aber Geld!“, stellte ich fest. Sonst würde ein Abstecher nichts bringen.
Ohne aufzublicken, wies er auf eine der Kisten und warf mir einen kleinen Schlüssel für das Schloss zu.
Neugierig öffnete ich diese. Ich sah und staunte.
„Woher hast du so viel Geld? Das ist ein kleines Vermögen!“
„Die Leute geben es mir für Medizin oder andere Gefälligkeiten. Hier in der Wildnis verbraucht man nicht so viel. Da sammelt sich schnell etwas an.“
Das klang logisch. Ich nahm mir ausreichend heraus. Ihm war es egal. Er vertraute mir offenbar. Wir gehörten ja zu einer Familie, wenn auch merkwürdigen.
Urgroßvater achtete nicht mehr auf mich und war ganz in das Buch versunken. Wie zumeist war er so gut wie nackt. Zwar hatte er sich ein Fell über den Rücken geworfen, aber seine Vorderseite war reine Natur. Ein wenig würdevoller könnte er sich als hiesiger Schamane schon geben, fand ich.
Ich verabschiedete mich überaus höflich und freute mich natürlich über die Abwechslung.
„Also bis bald!“
Der Lesende legte das Buch beiseite und stand auf.
„Häng dir das lieber noch um den Hals!“
Von seiner Hand baumelte eine Kette mit aufgefädelten Wolfsklauen, Ringsteinen und getrockneten Knoblauchzehen.
„Wozu?“, fragte ich missmutig. Das Ding war nur hinderlich und schien aus der Steinzeit zu stammen. Damit schreckte ich gesunde Menschen – also Bäcker, Metzger und Gemüsehändler – nur ab.
„Die Kette beschützt dich auf dem langen Weg vor Dämonen, Hexen und Werwölfen“, erklärte er, als wäre es die normalste Sache der Welt. „Sie hält diese Wesen fern und es wird schon früh dunkel. Da wird das Übel schnell munter.“ Er spuckte symbolisch auf den Boden.
Die bleiben auch ohne Amulette weg, wollte ich sagen. Das Reich der Fantasie besaß kein Tor zur realen Welt. In unserer aufgeklärten Zeit sollte jeder wissen, dass dergleichen nicht existierte. Das waren Volksmythen. Ich wollte mich jedoch mit ihm jetzt nicht streiten. Irgendwie wuchs mir der Kauz ans Herz und ich wollte meine Freiheiten vergrößern.
„Gib mir lieber auch noch eine Flinte!“, forderte ich. „Die hilft gegen die echten Wölfe!“
Er kroch tatsächlich durch das Mauseloch in sein Geheimzimmer. Es war jedoch keine Flinte, die er mitbrachte, sondern ein reich verzierter Wurfspieß in der Art, wie ihn die Lakota-Indianer benutzten.
„Nimm den mit!“ Er betrachtete den Speer verzückt von allen Seiten, als sähe auch er ihn das erste Mal. „Pass aber gut auf ihn auf! Er kann Werwölfe töten. So etwas bekommt man nicht irgendwo zu kaufen.“
„Aber klar doch!“, stimmte ich äußerlich höflich zu, lachte mich jedoch im Inneren schlapp. Werwölfe!
Die Waffe war immerhin besser als nichts. Ich nahm sie an mich, ebenso noch einen großen leeren Sack, der meine Einkäufe fassen sollte.
In dem kleinen Örtchen gab es hoffentlich auch Süßigkeiten. Die vermisste ich am meisten. In Manhattan hatten wir in allen Zimmern mehrere Schalen mit verschiedenen Konfektsorten stehen, aus denen sich jeder nach Gutdünken bedienen konnte. Schokolade, Nüsse, Mandeln, Rum … Ich schmeckte diese leckeren Dinge allein bei dem Gedanken beinahe auf der Zunge.
Schließlich trat ich durch die Felle des Eingangs nach draußen und lehnte die vom Zahn der Zeit angenagte Holzbalkentür wieder an. Das Licht biss regelrecht in meine Augen. In der Hütte war es trotz des Feuers immer recht dunkel. Es musste früher Morgen sein. Ich hatte offenbar die ganze Nacht willenlos getanzt, fühlte mich aber sogar aufgekratzt und nicht unbedingt müde. Das war alles sehr merkwürdig. Waren meine Erlebnisse vielleicht nur alle Teil eines Traumes und ich in Wirklichkeit somnambul?
Das Mädchen Gaya und die Zwillinge
Meine eiligen Schritte führten mich nun zurück durch die Wälder und Wiesen an dem Sumpf vorbei. Es war der gleiche Weg, den der Kutscher genommen hatte. Frost hatte eingesetzt. Der frische Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Ab und an kreuzten Tierspuren meinen Weg. In der Ferne jaulten hungrige Wölfe. Sofort beschleunigte ich das Wandertempo und umklammerte den Spieß fester. So unwirklich erschienen mir plötzlich die Gruselmärchen über Werwölfe nicht mehr. Verschreckt suchten meine Augen die Umgebung ab. Ängstlich vermutete ich hinter jedem Baum und Strauch eine Gefahr.
Nach etwa vier Stunden tauchte die Ansiedlung auf. Man konnte sie fast als eine kleine Stadt bezeichnen. Durch die neue Bahnstation hatte der Ort sich anscheinend in den letzten Jahren rasant vergrößert. Viele Häuser waren erst vor Kurzem errichtet worden. Das sah man an den frischen Holzbalken. Einige Gebäude bestanden sogar aus sauberem Stein. Sie gehörten sicher den wohlhabenden Bewohnern. Der Ort verstrahlte trotzdem noch den eigentümlichen Charme des Wilden Westens. Bei meiner Anreise hatte ich festgestellt, dass einige Bewohner noch demonstrativ ihre Colts trugen. Das war ein Relikt aus der Zeit der frühen Siedler und der Indianerkriege. Wir lebten inzwischen im zwanzigsten Jahrhundert.
Aus einem Seitenweg tauchten urplötzlich zwei grobe Gesellen auf. Es waren Zwillinge und ihre Gesichter sowie ein Teil ihrer Kleidung verrieten, dass sie Lakota-Blut in sich trugen. Sie blickten zu mir wie ich zu ihnen, allerdings viel finsterer. Ihre Augen funkelten regelrecht böswillig. Ich war froh, den beiden nicht schon im Wald begegnet zu sein. Auch sie schlugen den Weg zum Städtchen ein und gingen einige Meter vor mir. Völlig ungeniert, so als wäre ich Luft, unterhielten sie sich miteinander. Sie sprachen ein mit indigenen Slang versetztes Amerikanisch und waren offenbar Nachkommen der früheren Herrscher der Black Hills, die nun zumeist in kleineren oder größeren Reservaten wohnten. Dort hatten sie ihre eigenen Gesetze und sogar eine eigene Indianer-Polizei. Die Lakota durften jedoch inzwischen ihre Reservate verlassen und sich dort ansiedeln, wo wie wollten. Einige Siedler sahen das aber nach wie vor skeptisch.
„Was will dieser Mönch von uns? Das wird ihn aber etwas kosten! Ravenhort soll doch jetzt reich sein!“
Diesen Namen hatte ich schon gehört. So hieß doch der Kerl, der meinen Uropa bedroht hatte.
Ich ging bewusst langsam, um etwas Abstand zwischen mir und den beiden Kerlen zu lassen. Einen Streit konnte ich nicht gebrauchen. Dadurch hörte ich nicht, was sie noch besprachen.
In den Straßen regierte hier der Schlamm. Durch die Regenfälle und die zur Bahnstation holpernden Fuhrwerke hatte sich der Boden in einen braungrauen Brei verwandelt. Der geringe Frost und der wenige Schneefall reichten noch nicht, um ihn zu befestigen. Deswegen hatte man an einigen Stellen Balken und Bretter über die Wege gelegt, worauf man balancieren musste. Nur so konnte man die schwierigsten Stellen einigermaßen glimpflich überqueren.
Genau auf einem solchen Balken kam mir eine junge Einheimische entgegen. Sie war vielleicht dreizehn Jahre alt. Ich erkannte sie. Es handelte sich um genau das hübsche Mädchen, welches ich bei meiner Ankunft an dem Schmuckstand getroffen und der ich den Ring geschenkt hatte. Was für ein eigenwilliger Zufall. Ihr Anblick machte mich merkwürdig unruhig. Wieso schlug mein Herz schneller?
Das süße Kind musste in diesem Dorf wohnen. Einige wenige Sommersprossen zierten die Nase. Ihr unter dem Tuch hervorquellendes Haar glänzte schwarz und bildete einen Gegensatz zu ihrer hellen Haut, die selbst für großstädtische Verhältnisse blass wirkte. Fast bis zum Bauch reichten die in indianischer Manier geflochtenen Zöpfe, welche unter einer Pelzkappe hervorlugten.
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