3.2.2.1 Mission als weltverantwortlicher Dienst und Einladung zum Glauben
Werner Krusche würdigt das missionarisch-ökumenische Konzept von Gemeindeaufbau als einen «von der Unruhe der Liebe bewegte[n] Entwurf», der allerdings einer ernsthaften theologischen Überprüfung bedarf.[393] Grundsätzlich stimmt er zu, dass die Kirche in ihrer Struktur und in ihrem Handeln ganz auf die Welt ausgerichtet sein müsse. Kirche sei nicht «Kirche-für-sich» oder «Kirche-für-Gott», sondern «Kirche-für-die-Welt».[394] Die ökumenische Studie entspreche hierin dem «reformatorischen Verständnis der Welt als Schöpfung und Auftragsfeld des Christen […] und dem Protest gegen alle Vorrangigkeit und Selbstzwecklichkeit der Kirche»[395]. Widerspruch erhebt Krusche aber gegen die theologische Prämisse, dass die Welt durch Christi Tod und Auferstehung immer schon die mit Gott versöhnte Welt sei und alle Menschen unabhängig von Glauben oder Unglauben bereits zur erlösten neuen Menschheit gehören. Dagegen stehe das Zeugnis des Neuen Testaments, nach dem die Welt auch post Christum eine von Gott abgefallene und verlorene Welt bleibe und erst der Mensch in Christus zur neuen Schöpfung werde, d.h. erst der Mensch, der «in der im Glauben ergriffenen Taufe»[396] in Christi Leib eingefügt und seiner Herrschaft unterstellt ist.[397]
Die missio Dei sei daher primär zu fassen als «Sendung des Sohnes in die Welt zu ihrer Rettung» und dann erst als «die Sendung der Kirche in die Welt durch den Sohn mit dem rettenden Evangelium».[398] Der Schalom als Ziel der missio Dei umfasse in jedem Fall auch die «Wiederherstellung der gestörten Gemeinschaft des Menschen mit Gott», ohne dass die «soziale Komponente» zugunsten eines individualistischen Missverständnisses aufgegeben werden dürfe.[399] Der Impetus der ökumenischen Studie sei als ernste Anfrage an das mangelnde gesellschaftliche Engagement der Kirche zu hören. Da im Schalom «des Menschen Heil und des Menschen Wohl» beieinander sind, ziele auch die Mission der Kirche auf beides: durch Weitergabe des Evangeliums auf das ewige Heilsein und durch weltverantwortlichen Dienst auf das zeitliche Wohlsein.[400] Martyria und Diakonia gehören unauflöslich zusammen. Weil aber «Menschen in dieser Welt Schalom als Heil haben [können], auch wenn ihnen das Wohl versagt bleibt»[401], sei der rettenden Verkündigung eine «prinzipielle, aber keineswegs immer auch chronologische Priorität»[402] zuzuschreiben.
3.2.2.2 Die Sammlung der Gesendeten
Zielt die Mission der Kirche nicht nur auf humanisierende Weltgestaltung, sondern darüber hinaus auf die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott, so kann auch die Kirche als Schar derer, die dieses im Evangelium überbrachte Geschenk annehmen, «nicht nur Werkzeug der Missio Dei, sein, sondern auch deren vorläufiges Ziel»[403]. Daher versucht Krusche auch für die Sammlung ein gewisses Eigenrecht zurückzugewinnen und der Gefahr einer Funktionalisierung durch die Sendung zu entgehen: Die Gemeinde als wanderndes Gottesvolk «ruht unterwegs im Lobpreis, aber sie setzt sich nicht vorzeitig zur Ruhe»[404]. Im Einklang mit der ökumenischen Diskussion sieht Krusche in der Sammlung die Gefahr, dass sich die Kirche aus der Welt zurückzieht und zur Sektengemeinschaft wird. Doch gerade «weil die Gemeinde von der Sendung des Sohnes und in der Sendung durch den Sohn existiert, bedarf sie des Sich-Versammelns»[405]. In den Versammlungen geschieht mehr als nur die Koordination des Gottesdienstes im Alltag der Welt, sondern im Wesentlichen die Feier der Gemeinschaft mit Gott. In der Verkündigung des Evangeliums, in der Feier des Abendmahles, in der gemeinsamen Fürbitte, im Lobpreis, aber auch im mutuum colloquium und gegenseitigen Dienst mit den Charismen entsteht geistliches Wachstum und Erbauung, wird Trost, Vergebung und Segen empfangen[406] – aber eben nicht zur Pflege einer verinnerlichten Frömmigkeit, sondern «um für die Sendung geeigneter zu werden»[407].
3.2.2.3 Gemeinde Jesu Christi als charismatische Gemeinschaft für andere
Die Diskussion um die Struktur missionarischer Gemeinde ist für Werner Krusche von Anfang an verbunden mit der Wiederentdeckung der Gemeinde als einer charismatischen Gemeinschaft, in der sich alle Glieder des Leibes Christi nach dem Maß ihres verliehenen Charismas einbringen und so die Kirche für andere gestalten. Im Rückblick formuliert er:
«In den 60er Jahren haben wir in unseren Kirchen sehr intensiv nachgedacht über unseren künftigen Weg. Uns ist damals das paulinische Verständnis der Kirche als ‹charismatische Gemeinschaft› […] neu aufgegangen.»[408]
Ist das Missionarische das Strukturprinzip der Gemeinde, so müssen auch ihre Lebensformen der Teilnahme an der missio Dei dienen. Das heißt konkret: Sie müssen aufnahmefähig und ausstrahlungskräftig sein und die Glaubenden aussendungstüchtig machen.[409] Als das größte Hindernis sieht Krusche die «pastorale Betreuungsstruktur»[410] an. Aus der reformatorischen Erkenntnis des Priestertums aller Gläubigen seien «nie wirklich Konsequenzen gezogen worden»[411]. Anstatt des Bildes vom Leib Christi, in dem jedes Glied seine Funktion hat, habe sich das Bild von Hirte und Herde festgesetzt, das den Pfarrer als den «immer nur Gebenden» der Gemeinde als der «immer nur Empfangenden» gegenüber setzt.[412] Die Mehrheit bleibe rezeptiv, die wenigen mitarbeitenden Laien verstehen sich als «Handlanger des Pfarrers […], die das tun, was er als zu seinem allumfassenden Amte gehörend eigentlich selbst tun müßte, infolge seiner Überlastung aber leider nicht selbst tun kann»[413]. Die «Durchbrechung des ‹Einmannsystems›» werde aber nicht einfach durch eine Vergrößerung der «Arbeitsmannschaft» des Pfarrers erreicht, sondern nur dort, «wo die Gemeinde als Leib Christi, als ‹charismatische Gemeinschaft› wiederentdeckt ist, in der jeder, der seine Taufe im Glauben angenommen hat, den Heiligen Geist in einer bestimmten Konkretion als Charisma empfangen hat, in der also jeder etwas beizutragen hat, was für das Leben der Gemeinde unentbehrlich ist»[414]. Dazu bedürfe es aber einer «Neuorientierung an 1.Kor 12 und Eph.4»[415]. Gemeinde kann also nur missionarische Gemeinde werden, wenn sie zugleich auch charismatische Gemeinde ist.
Krusche fordert, das Amtsmonopol des Pfarrers aufzugeben und den Dienst der Versöhnung wieder als das eine der ganzen Gemeinde anvertraute Amt zu begreifen. Dieses eine Amt sei «funktional aufgegliedert und differenziert in verschiedene Gestalten»[416]. Die Glieder des Leibes seien an ihm «nach dem Maße ihres je besonderen Charisma oder kraft konkreter Berufung»[417] beteiligt. Im Einklang mit der ökumenischen Studie betont Krusche, dass ohne die Pluralität der Dienste und die Vielzahl der Begabungen das Evangelium in der modernen differenzierten Gesellschaft nicht mehr allen Menschen bezeugt werden könne: «Das eine Evangelium sucht alle und wird darum pluriform.»[418] Ist das Amt der Versöhnung der ganzen Gemeinde anvertraut, so könne das Pfarramt der Gemeinde nicht vor- oder übergeordnet sein, sondern nur eine spezifische Gestalt dieses einen Amtes. Seine Besonderheit liege vor allem in der Ausrichtung auf die Gesamtgemeinde. Sie konkretisiere sich in der Bewahrung der apostolischen Überlieferung und in der Zurüstung der «Heiligen» für das «Werk des Dienstes» (nach Eph 4,11f). Diese Zurüstung geschehe aber «sachgemäß nur unter der Voraussetzung der Gemeinde als einer charismatischen Gemeinschaft»[419] und bestehe in erster Linie in der Entdeckung der Charismen, ihrer Förderung und der Zuweisung zu bestimmten Aufgaben.[420] Im Gegensatz zur ökumenischen Studie sieht Krusche die verschiedenen Begabungen nicht in einem gegenseitigen Befähigungsprozess entstehen. Sie werden von Gott gegeben bzw. sind bereits gegeben worden, zum Teil aber wegen «Nicht-Inanspruchnahme»[421] verkümmert.
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