Die doppelte missionarische Ausrichtung der Gemeinde in Martyria und Diakonia, in Verkündigung des Evangeliums und Dienst in der Welt, bleibt auch für Krusches Charismenverständnis bestimmend: Die charismatische Gemeinschaft werde nämlich erst da «als Leib Christi ernst genommen», wo es «in wechselseitigem Geben und Empfangen» nicht nur um die Auferbauung des Leibes geht, sondern wo Christus als der gedacht wird, der durch seinen Leib sich der Welt und ihres Elends annimmt und sie «barmherzig angreif[t]», «wenn also auch mit Charismen für den Dienst in der Welt […] gerechnet wird».[422] Nicht nur in den «kirchlichen Innenfunktionen» sollen die verschiedenen Gaben ihren Einsatz finden, sondern «in den Sachbereichen der Welt»[423]. Die charismatische Gemeinde steht im Dienst der missio Dei . Gegenüber der Hochschätzung bestimmter auffälliger Charismen in der charismatischen Bewegung fragt Krusche, ob «heute nicht vielleicht ganz andere Charismen notwendig» seien – «nämlich die für die Weltverantwortung erforderlichen Charismen, wie die Sensibilität für die Leidenden in der Welt oder die Fähigkeit der Übersetzung von Inhalten des Evangeliums aus der biblischen Sprache in die politische Sprache».[424] Zusammenfassend formuliert Krusche: «Die Gemeinde Jesu Christi ist eine charismatische Gemeinschaft, die für ihren Dienst in der Welt die jeweils erforderlichen Gaben erhält.»[425]
Doch wie kann die Gemeinde als charismatische Gemeinschaft gestaltet werden? Welche Schritte sind konkret im Gemeindeaufbau zu gehen? Werner Krusche hat zu diesen Fragen keine umfassenden Antworten oder Programme entwickelt, doch treten in seinen Ausführungen zwei Aspekte hervor:
1. Zum einen stellt Krusche kritische Anfragen an die geistliche Haltung der Kirche. Eine «Erwartungslosigkeit» habe sich breitgemacht, die nicht mehr damit rechne, dass es «zu Erweckungen und zu verbindlicher Christusnachfolge kommen könnte, zu Bekehrungen von Menschen aus ganz unkirchlichem Milieu, zur Betätigung von Charismen, die bisher unentdeckt waren und sich nicht entfalten konnten».[426] In der charismatischen Bewegung mit ihrer zuversichtlichen Erwartung gegenwärtiger Wirkungen des Heiligen Geistes sieht Krusche zwar kein direktes Vorbild, das einfach zu kopieren wäre, aber eine wichtige Anregung und Herausforderung, den Geist nicht wie bisher nur «in seiner das Wort begleitenden und auf unser Denken und Wollen gerichteten Funktion» wahrzunehmen, sondern auch mit «ihm als dem Wandlungen und Wunder bewirkenden ‹Geist der Kraft› (2Tim 1,7; Mt 12,28)» zu rechnen.[427]
2. Zum anderen scheint es, als sehe Krusche die grundlegende Sozialgestalt charismatischer Gemeinschaft vor allem in der Hausgemeinde, wie sie Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe angedacht, aber noch nicht zu verwirklichen gewagt hat.[428] Sie sei die Gemeinde der Zukunft. Wenn die Reformation der Kirche weitergehen soll – und sie soll es, «weil das Evangelium weiter gehen will als bis zu den Grenzen der Kirche»[429], – dann wohl «in Richtung auf diese kleinen Gemeinschaften kommunikativen Lebens»[430]. Hier verwirkliche sich die charismatische Gemeinschaft in gegenseitiger Seelsorge, Stärkung, Ermahnung, Tröstung und finanzieller Hilfe. Insofern in ihr die Milieuverengung des Gottesdienstes und der üblichen Gemeindekreise überwunden werde, sei sie nicht introvertiert, sondern missionarisch. Hier geschehe die Zurüstung zum Dienst, da man «miteinander bedenkt, wie man das Evangelium am besten weitergibt durch Hand und Mund, durch Wort und Tat»[431]. Krusche kommt schließlich zu der kritischen Anfrage an die kirchliche Praxis, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen der Vernachlässigung derartiger «geistlicher Lebensangebote» und der fehlenden Entfaltung bzw. dem mangelndem Wirksamwerden der charismatischen Möglichkeiten gebe.[432]
3.2.2.4 Kirche im Spannungsfeld zwischen Charisma und Institution
Bildet in den bisherigen Ausführungen Krusches die einzelne Gemeinde als charismatische Gemeinschaft den wesentlichen Ausgangs- und Zielpunkt der Überlegungen, so fragt er in einem späteren Aufsatz (1989) nach ihrem prinzipiellen Verhältnis zur institutionellen Sozialgestalt der Kirche. Der Begriff «Charisma» wird dabei nicht mehr primär zur Bezeichnung einer vom Geist verliehenen Gnadengabe verwendet, sondern zumeist in einem formal-abstrahierten Sinn als Ausdruck für die charismatische Dimension der Kirche im Ganzen, für das «Gesamt der der Kirche in ihren einzelnen Gliedern gegebenen ‹Energien des neuen Leben›»[433].
Institution und Charisma sieht Krusche nicht als zwei pneumatische Strukturen, die in einem harmonisch-komplementären Verhältnis zueinander stehen. Er stimmt aber auch nicht dem Ansatz Emil Brunners zu, der einen kategorialen Gegensatz zwischen beiden Größen konstatiert. Dem gegenüber setzt Krusche Charisma und Institution in das dialektische Verhältnis einer notwendigen, aber spannungsreichen und gefährdeten Dualität: Mit Leonardo Boff versteht er das Charisma als «fundamentaler als das institutionelle Element». Es sei «das strukturierende Prinzip der Institution», der «Wurzelgrund jeder Institution» und die «Kraft, welche die Institution schafft und lebendig erhält».[434] Dennoch stehen beide Größen in Spannung. Sie gefährden sich gegenseitig: Auf der einen Seite wirken sich Missachtung oder Missbrauch des Charismas, v.a. «die Selbstüberschätzung und die Unwilligkeit, sich begrenzen zu lassen», immer institutionell aus.[435] Auf der anderen Seite sei die besondere Gefahr der Institution die «Verfestigung und die mit ihr zusammenhängende Unwilligkeit und Unbeweglichkeit gegenüber allem Neuen und ihre Tendenz zur Selbstzwecklichkeit»[436]. Die eigentliche Gefahr komme aber nicht vom Charisma oder der Institution an sich, sondern «von dem homo peccator als dem Verwalter der Institution und dem Träger des Charisma»[437].
Die notwendige Spannung zwischen Charisma und Institution führt zu Konflikten, wenn sich eine Größe gegenüber der anderen verabsolutiert. Sie kann sich aber auch unter dem Charisma der Liebe fruchtbar auswirken, wie Krusche exemplarisch anhand der Spannungsfelder von Kontinuität und Flexibilität, Gewohnheit und Entscheidung, Recht und Seelsorge, Dialog und Prophetie bzw. Dogma und Erfahrung aufzeigt: So bieten die institutionellen Regelungen und Ordnungen der Kirche zwar Kontinuität und schützen vor Willkür und unkritischer Anpassung an «jeden modischen Pfiff»[438], begrenzen aber auch die Möglichkeit, auf aktuelle Herausforderungen wie das Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung in der notwendigen Flexibilität reagieren zu können. Wie die institutionalisierte Kirche in diesem Fall von dem in den Aktions- und Initiativgruppen wirkenden Charisma abhängig ist, so lässt sich auch in den anderen genannten Spannungsfeldern die Angewiesenheit der Institution auf die Korrektur durch das Charisma aufweisen: Die vor subjektiver Überlastung bewahrende Funktion institutionalisierter Rituale, z.B. in der kirchlichen Kasualpraxis, bedarf des auf Entscheidung drängenden Charismas, um nicht zu einem allgemeinen «Gewohnheitschristentum»[439] zu führen. Die durch das Pfarrdienstrecht rechtlich fixierte kirchliche Disziplin wird ohne das im konkreten Fall wirkende «Charisma der Seelsorge» die eventuellen negativen Folgen einer unbarmherzigen Rechtsdurchsetzung für die Gemeinschaft nicht im Blick haben. Dialogoffene Äußerungen der Kirche, wie z.B. die differenzierte Stellung der EKD zur Wiederbewaffnung, ersetzen nicht das zu gewissen Zeiten unumgängliche und sich mit nicht-hinterfragbarer Autorität äußernde prophetische Charisma, wie z.B. das kategorische Nein zum Einsatz von Kernwaffen.[440] Die Kirche ist als Institution auf das Charisma angewiesen, um nicht durch Trägheit und Selbstzwecklichkeit ihre Beweglichkeit zu verlieren.
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