«Das Charisma sorgt dafür, dafür, daß die Institution sich nicht zu einer perfekten Institution verfestigt, sondern daß sie ‹Institution im Übergang› bleibt, - im Übergang nicht zu einer institutionsfreien ‹Geistkirche›, sondern im Übergang zu ‹angemesseneren institutionellen Regelungen›.»[441]
3.2.3 Zusammenfassung und kritische Würdigung
1. Die ökumenische Diskussion um die missionarische Gemeinde ist besonders im theologischen Ansatz Werner Krusches von Anfang an mit der Entdeckung der charismatischen Gemeinschaft verbunden. Missionarische Kirche, im weitesten Sinne verstanden als eine Kirche, die sich ihres Gesendetseins bewusst ist, könne das Evangelium in einer differenzierten und pluriformen Gesellschaft nur in der Vielzahl der Gaben und Dienste bezeugen. Dabei betrachtet allerdings die ökumenische Studie das Charisma ausschließlich in seiner strukturellen Außenseite und nur unzureichend in seiner pneumatischen Innenseite. Das Charisma ist v.a. als differenzierendes Moment der verschiedenen Funktionen am Leib Christi, nicht in erster Linie als Wirkung des Geistes reflektiert. Die Gleichsetzung von Charisma und weltlicher Kompetenz bzw. sozialer Rolle wird daher ebenso wenig problematisiert wie das damit implizierte habituelle Charismenverständnis. Von einem beschenkenden Wirken des Geistes, das dem eigenen Tun vorgeordnet und mit dem eigenen Können nicht identisch ist, wird nicht geredet. Die sich von der Charismenlehre her bietende Möglichkeit, die vielfältigen Funktionen der Gemeinde pneumatologisch im Wirken des Geistes und damit die Aufgabe in der Gabe zu begründen, bleibt ungenutzt. Stattdessen entsteht die Gefahr, dass charismatische Gemeinde als ein gesetzlicher Anspruch missverstanden wird, der von jedem das aus eigener Kraft fordert, was nach dem Zeugnis des Neuen Testaments nur Gottes Geist wirken kann. Indem Krusche das relative Eigenrecht der «Sammlung» wiedergewinnt, in der «in wechselseitigem Geben und Empfangen»[442] geistliches Wachstum und Erbauung geschehen sowie Vergebung und Segen empfangen werden, steuert er dieser Tendenz zumindest im Ansatz entgegen. Er erinnert die Gemeinde im Licht der Charismenlehre an das geschenkhafte und befähigende Handeln des Geistes, das allem menschlichen Tun vorausgeht.
2. Werner Krusche weist darauf hin, dass die pastorale Betreuungsstruktur nicht einfach durch eine vermehrte Aktivierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern überwunden werden kann. Vielmehr muss die Fiktion des Amtsmonopols überwunden und die Gemeinde als charismatische Gemeinschaft verstanden werden, in der jedem Glied eine unentbehrliche Funktion gemäß dem ihm verliehenen Charisma zukommt. Wegweisend ist hierbei das Verständnis des pastoralen Amtes von Eph 4 her. Es steht nicht mehr der Gemeinde gegenüber, sondern ist ihr dienend eingebettet. Seine besondere Aufgabe besteht in der Zurüstung der Gemeinde zu ihrem Dienst in der Welt (Eph 4,11f). Während aber die ökumenische Studie dem Pfarrer selbst die Rolle des «Befähigers» (enabler) zuschreibt, kommt Krusche dem neutestamentlichen Zeugnis von der göttlichen Ursprungsrelation des Charismas entscheidend näher: Das Charisma ist für ihn nicht das Ergebnis eines wechselseitigen Befähigungsprozesses, sondern Gabe des Geistes. Es ist nicht erst im kommunikativen Prozess zu produzieren, sondern im Vertrauen auf die Verheißung zu erwarten, dann aber auch zu entdecken, zu fördern und mit einer bestimmten Aufgabe zu verbinden.
3. Die Orientierung am Leitbild der charismatischen Gemeinde führt nach Krusche nicht zu einer Konzentration auf ein behagliches Innenklima. Gerade die Vielfalt charismatischen Handelns in Martyria und Diakonia bewahrt die Gemeinde vor einer Selbstabschottung gegenüber der Welt. Die Charismen sind nicht nur für den kirchlichen Innenraum gegeben, sondern auch für den Dienst in der Welt. Sie haben eine weltverantwortliche Dimension. Steht die ökumenische Studie in der Gefahr, die Charismen mit den weltlichen Kompetenzen gleichzusetzen, auf das gesellschaftliche Engagement zu beschränken und aktionistisch zu instrumentalisieren,[443] so wird das Charisma bei Krusche mehr ins Gleichgewicht von Sammlung und Sendung gerückt. Das charismatische Wirken des Geistes bildet geradezu das verbindende Moment: In der charismatischen Gemeinschaft geschieht durch den gegenseitigen Dienst der verschiedenen Gaben die Zurüstung der Christen, um besser mit dem jeweils eigenen Charisma in den Sachbereichen der Welt dienen zu können. Somit wird bei Krusche zumindest im Ansatz deutlich, dass der Gabe sachliche Priorität vor der Aufgabe zukommt und dass die Gemeinde durch die Charismen nicht nur in Unruhe versetzt wird, sondern vor Gott auch zur Ruhe kommen und den «‹Charme› des Charismas»[444] als Manifestation der Schönheit Gottes erfahren darf.
4. Charisma und Institution bilden nach Krusche keine apriorischen Gegensätze, sondern stehen in einer spannungsvollen Beziehung gegenseitiger Notwendigkeit, aber auch Gefährdung zueinander. Ziel des Gemeindeaufbaus kann daher keine vermeintlich institutionsfreie Geistkirche sein, sondern nur eine Kirche, in der Institution und Charisma sich gegenseitig dienen. Die charismatische Dimension der Gemeinde bildet aber dennoch ein kritisches Korrektiv gegenüber einer zu Selbstzwecklichkeit und Erstarrung tendierenden Institution.
3.3 Christof Bäumler: Charismatische Gemeinde als geschichtliches Paradigma kommunikativer Gemeindepraxis
Christof Bäumler ist ein Befürworter einer volkskirchlich-konziliaren Gemeindepraxis und rezipiert zu ihrer theoretischen Begründung die paulinische Charismenlehre.[445] Damit unterscheidet er sich zum Beispiel von der EKD-Studie «Christsein gestalten», deren pneumatologische Basis sich in einer formalen Feststellung der Unverfügbarkeit des Geistes erschöpft.[446] In ähnlicher Weise spielt die Charismenlehre auch für Wolfgang Lück keine konstitutive Rolle. Er hat nach Herbert Lindner erstmals den Gedanken der Konziliarität auf die konkrete Ortsgemeinde übertragen und ein konziliares Gemeindemodell vertreten.[447] Lück widerspricht sogar ausdrücklich dem Evangelischen Erwachsenenkatechismus, der das paulinische Bild der charismatischen Gemeinde als «Idealbild einer lebendigen Gemeinde» versteht und in ihrem Licht die volkskirchliche Praxis als defizitär bezeichnet.[448] Lück hält dem in einseitiger Rezeption von Käsemanns Aufsatz zu «Amt und Gemeinde im Neuen Testament» entgegen, dass Paulus alle Aussagen über die Gemeinde «nur nebenbei» mache und es ihm in der Charismenlehre nur um die Herrschaft Christi gehe. Daher könne die «lebendige Gemeinde […] kein Programm»[449] des Paulus sein, ihm gehe es eher um ein «religionsloses Christentum». Die paulinische Charismenlehre hat folglich für Lück weder normativen Gehalt noch oikodomische Relevanz. Ganz im Sinne des konziliaren Modells plädiert er aber dafür, auch in der Volkskirche den Gruppen einen Raum zu geben, «die sich selbst einem Programm von ‹lebendiger Gemeinde› usw. verschreiben».[450] Die charismatische Gemeinde wird bei Lück zur Option ohne normativen Gehalt.[451]
Christof Bäumler greift im Gegensatz zur EKD-Studie und Wolfgang Lück die paulinische Charismenlehre auf, sieht ihre oikodomische Relevanz und weist ihr einen Ort in der theologischen Begründung der «Kommunikativen Gemeindepraxis» zu. Sie gilt ihm als Paradigma konziliarer Realisierung von Freiheit.
3.3.1 Kommunikative Gemeindepraxis als konziliare Realisierung von Freiheit
Christof Bäumlers Veröffentlichungen zur «Gemeindepraxis»[452] wollen kein fertiges «von oben» durchzuführendes Programm entwerfen, das die Gemeindeglieder vorwiegend in der Rolle der Adressaten belässt und sie ihrer Freiheit als verantwortliche Subjekte beraubt. Es geht ihm vielmehr darum, eine theologische Theorie zu entwickeln, die zwar die Bedingungen «für eine besser gelingende Gemeindepraxis» untersucht und auf Möglichkeiten einer Realisierung hinweist, die aber die konkrete Umsetzung dem Prozess einer die ganze Gemeinde umfassenden diskursiven «Suchbewegung» überlässt.[453] Die Gemeinde soll als Subjekt der Gemeindepraxis wiedergewonnen werden. Die normative Leitvorstellung, an der sich die theologische Theorie und die jeweils am geschichtlich-gesellschaftlichen Ort zu entwickelnde «Praxistheorie von Kirchengemeinden»[454] orientiert, ist die «Gemeinde der Befreiten»[455]. In ihr werden alle getauften Gemeindeglieder als verantwortliche und freie Subjekte ernst genommen und bringen sich in den Prozess Gemeinde ein. Die «Gemeinde der Befreiten» ist eine «konkrete Utopie»[456], die «nicht als bloßes Ziel behauptet oder gefordert wird, sondern aus den in der jeweiligen Situation enthaltenen Möglichkeiten entwickelt wird»[457].
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