«Ich hatte Gelegenheit, in mehreren Gemeinden dieses neuerwachte charismatische Leben kennenzulernen und war vor allem beeindruckt von den Gebetsgottesdiensten, in denen die Geistesgaben, von denen Paulus in 1. Kor 12–14 spricht (also z.B. Prophetie, Offenbarung, Zungenrede und Interpretation), in großer Disziplin und Ordnung und in einer feierlichen liturgischen Schönheit praktiziert wurden.»[324]
Bei den innerkirchlichen charismatischen Bewegungen kam es bereits in ihren ersten Jahren zu Versuchen, die neuen Erfahrungen biblisch-theologisch zu klären und mit der jeweils eigenen theologischen Tradition in Verbindung zu setzen. Dokumente dieser Auseinandersetzung sind u.a. die Veröffentlichungen zweier ökumenischer Tagungen,[325] zu denen Vertreter aus der syrisch-orthodoxen, russisch-orthodoxen, römisch-katholischen, anglikanischen, evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Kirche ihr Verständnis der Charismen auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen theologischen Tradition vortrugen.[326] Bei allen unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Akzentsetzungen fallen die gemeinsame Betonung der Universalität der Charismen und die Relativierung der spektakulären Geistesgaben auf.[327] Inwieweit sich in neuester Zeit die innerkirchlichen charismatischen Kreise durch die starke Betonung der «Zeichen und Wunder» im Zusammenhang der sogenannten Dritte Welle beeinflussen lassen oder in Zukunft lassen werden, ist kaum pauschal zu beantworten.[328] Die letzte offizielle Veröffentlichung der GGE zu den Charismen scheint dieser von Christian Möller befürchteten Tendenz[329] zu widersprechen. Die Autoren Friedrich Aschoff und Paul Toaspern wenden sich jedenfalls explizit gegen eine Theologie, nach der «die Gaben des Geistes als ‹übernatürlich› eingegeben und ‹senkrecht von oben› empfangen» werden, ohne dass die menschlichen Bedingungen und kulturelle Prägungen berücksichtigt werden. Charismen sind vielmehr «Dienstgaben, die auch ‹auf unsere Natur aufbauen›»[330]. Obwohl sich Aschoff v.a. den «auffälligere[n] Gaben»[331] Prophetie, Sprachengebet und Heilung widmet, entfaltet und beschreibt er im einleitenden Kapitel die biblische Vielfalt der Charismen. Besondere Wertschätzung erfährt dabei die «Diakonia» als «Gabe der Dienst- und Hilfsleistung», die meistens im Verborgenen geschehe und oft mehr zum Bau des Reiches Gottes beitrage als andere Gaben.[332] Dem Charisma, Wunder zu tun, wird zwar gegenwärtige Bedeutung zugeschrieben. Es sei aber «kirchengeschichtlich eher besonderen Situationen zuzuordnen, wie beispielsweise der Mission oder in Zeiten der Verfolgung» und unterliege der Gefahr, von der Verkündigung gelöst zu werden bzw. zu einem Personenkult zu führen.[333]
Die pfingstlerisch-charismatische Bewegung und ihre «Wiederentdeckung der charismatischen Dimension von Gemeinde» können als Reaktion auf und zugleich als kritische Anfrage an Praxis und Theorie der traditionellen Kirchen gewertet werden.[334] Nach Peter Zimmerling machen sie «ein schweres Defizit der reformatorischen Kirchen» offenbar, die trotz der Theorie des allgemeinen Priestertums «keine Überwindung der Pfarrerzentriertheit des Gemeindelebens» erreichten.[335] Darüber hinaus konfrontieren sie die Praktische Theologie mit der Verlegenheit, dass die Charismenlehre bis heute kaum zum Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion geworden ist.
3 Die Rezeption der Charismenlehre in der Oikodomik
3.1 Vorbemerkungen
3.1.1 Zu den Anfängen der modernen Oikodomik und ihren Verbindungen zur Charismenlehre
Die Kirche Jesu Christi steht als ecclesia semper reformanda zu jeder Zeit in der Verantwortung, die gegenwärtige und zukünftige Gestalt ihrer Praxis vom Evangelium Jesu Christi her kritisch-reflexiv zu bedenken und konstruktiv-prospektiv zu entwerfen. Insofern sie das Evangelium als Befreiung des Menschen zu einer neuen Gemeinschaft mit Gott und Mensch versteht – eine Gemeinschaft, die keine abstrakte Idee bleiben, sondern konkrete Gestalt in der Wirklichkeit des Lebens annehmen will –, kommt den Fragen nach Ordnung und Aufbau, Entwicklung und Wachstum von Kirche und Gemeinde eine besondere Bedeutung zu. Dennoch gehört die Oikodomik als wissenschaftlich-theologische Reflexion dieser Fragen zu den jüngeren praktisch-theologischen Disziplinen, die die klassische Trias von Homiletik, Poimenik und Katechetik ergänzen.[336]
Als «Vater des modernen Gemeindedenkens» gilt der neuprotestantische Dresdner Pfarrer Emil Sulze (1832–1914).[337] Er sah in den übergroßen Parochien das Haupthindernis für ein lebendiges Gemeindeleben und forderte die Schaffung von überschaubaren «Seelsorgegemeinden» mit nicht mehr als 3000–4000 Gemeindegliedern.[338] Der Begriff «Gemeindeaufbau» erhielt allerdings erst durch den Afrikamissionar Bruno Gutmann (1876–1966) Eingang in die theologische Fachsprache.[339] Gutmann beschreibt in seinem Buch «Gemeindeaufbau aus dem Evangelium» (1925) die Grundsätze, nach denen er unter den Dschagga am Kilimandscharo christliche Gemeinde baute, und die er «für Mission und Heimatgemeinde»[340] für bedeutsam hält.
Weder Bruno Gutmann noch Emil Sulze nehmen in ihren Ausführungen explizit Bezug auf die Charismenlehre, obwohl beide Konzeptionen eine gewisse Nähe zum paulinischen Bild der charismatischen Gemeinde aufweisen. So kommt es Gutmann darauf an, «das Bewußtsein der inneren Bezogenheit aller Glieder aufeinander zu erwecken»[341]. Dazu stärkt er die Verwurzelung der Menschen in den natürlichen Bindungen von Sippe, Nachbarschaft und Altersklassen und integriert sie in den Gemeindeaufbau. Er richtet zum Beispiel Nachbarschaftsversammlungen nach dem Gottesdienst ein, die ihre internen Probleme selbst lösen sollen. Weiterhin fügt er zwei, später auch vier Konfirmierte zu einer «Schildschaft» zusammen, die lebenslang besteht und sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Ziel des Gemeindeaufbaus ist für Gutmann die «Selbstwirksamkeit der Gemeinde» als dienender Organismus.[342] Dabei kreist sein Denken nach Christian Möllers Darstellung «unermüdlich um die paulinische Rede vom Leib und den Gliedern»[343]. Diese wird von ihm allerdings ausschließlich schöpfungstheologisch ausgelegt, während die christologische und pneumatologische Dimension in den Hintergrund tritt. Folglich wird auch die Charismenlehre von Gutmann nicht weiter bedacht.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Emil Sulze. Er tritt nicht nur für eine Aufteilung der übergroßen Großstadtparochien in «Seelsorgegemeinden» ein, sondern auch für deren Untergliederung in weitere Unterbezirke von etwa 200 Gemeindegliedern. Jeweils ein Laien-Mitarbeiter, von Sulze «Presbyter» genannt, ist für einen Bezirk zuständig. Die Laien-Mitarbeiter verantworten zusammen mit den tüchtigsten Hausvätern (wobei auch Frauen nicht ausgeschlossen sind) die seelsorgliche und diakonische Arbeit des Bezirks. Auf diese Weise soll die «Selbsttätigkeit der Gemeinden»[344] wieder angeregt werden:
«Es muß […] das Ziel unseres Strebens sein, daß in der Gemeinde eine Arbeit aller an allen geschieht.»[345] «Dann regt sich in den Gemeinden ein selbständiges Leben, das die Geistlichen nur im Gange zu erhalten und zu leiten haben. Eine über das Maß der Kraft […] hinausgehende Produktivität braucht dann nicht mehr von ihnen gefordert zu werden. Ihre Arbeit wird bescheidener und doch reicher an Inhalt und Erfolg.»[346]
Sulze tritt demnach für eine Aktivierung der Laien zu gegenseitigem Dienst in Seelsorge und Diakonie ein – «ein revolutionärer Gedanke in einer Zeit, in der ausschließlich das geordnete Amt der Kirche dafür zuständig war»[347]. Ob man Sulze mit Gottfried Knospe «den Wiederentdecker der Gemeinde»[348] nennen sollte, ist im Blick auf Hinrich Wichern und andere Befürworter des Gemeindeprinzips fraglich (→ 2.2.2). Jedenfalls nimmt er das reformatorische Prinzip des allgemeinen Priestertums in seiner ekklesiologischen Bedeutung ernst und bedenkt seine Konsequenzen für die Gestaltung von Gemeinde und Kirche intensiver als viele zeitgenössischen Theologen. Die Begründung seiner Reformvorschläge bleibt allerdings vorwiegend pragmatisch und wird nicht durch Rekurs auf die paulinische Charismenlehre pneumatologisch fundiert.
Читать дальше