„Blödes Vieh“, murmelte Cangoo in sich hinein und zischte dem Krokodil leise zu. „Hab ich dir nicht extra eingebläut, dass du gefährlich gucken sollst?“ Beim Anblick des Kängurus begann das Krokodil jedoch noch heftiger zu schluchzen, bis es schließlich am ganzen Körper zitterte. Watahulu hatte keine andere Wahl, als es so lange mit seinem farbbeklecksten Rüssel zu kitzeln, bis die Tränen versiegt waren. „Weiß jemand, wer das arme Tier in diesen Zustand versetzt hat?“, fragte mein Vater. Cangoo, der sich für seine Mitternachtsaktion inzwischen doch ein bisschen schämte, schüttelte betreten den Kopf. „Vielleicht hat es Hunger“, quietschte Watahulu. „Was mögen Krokodile denn am liebsten?“
„Löwen, Zebras, Kühe und manchmal auch Kängurubraten“, sagte mein Vater mit einem Seitenblick zu Cangoo. Denn ihm war schon von Anfang an klar gewesen, dass Cangoo lange nicht so unschuldig war, wie er tat. „Totaler Quatsch“, begehrte Cangoo etwas kleinlaut auf. Denn ihm wurde die Sache jetzt doch ein bisschen unheimlich. „Der Typ frisst bestimmt nur Wurzeln und Gras.“
„Ja, solange sie aus Fleisch sind“, sagte mein Vater, ging in die Küche und kam mit einer Platte roher Steaks zurück. Dankbar schnappte das Krokodil danach und vergaß sogar seinen Kummer über diesem unerwarteten Genuss.
In den kommenden Wochen versuchten wir geduldig, dem Krokodil, das bisher nur eine Mischung aus Suaheli und Arabisch gesprochen hatte, Deutsch beizubringen. Wegen seiner Abstammung hatten wir es auf den Namen Orinoko getauft. Aber alle nannten es nur Noko. Mitte April beherrschte Noko unsere Sprache schon so gut, dass wir uns ohne Probleme unterhalten konnten. Wie sich herausstellte, war es am Nil aufgewachsen, nachdem seine Eltern wegen einer Hochwasserkatastrophe aus Indonesien ausgewandert waren. Danach hatte man sie zu Taschen und Schuhen aus Krokodilleder verarbeitet. Im Gegensatz zu Watahulu konnte Noko Wasser nicht leiden und fing schon an, am ganzen Körper zu zittern, wenn jemand nur Badewasser einlaufen ließ. Albert erklärte Cangoo und Watahulu, dass Noko wahrscheinlich traumatisiert sei. „Traumati... Was?“, fragte Cangoo stirnrunzelnd nach. „Es hat wahrscheinlich mal etwas Schlimmes im Wasser erlebt“, klärte Watahulu Cangoo auf. „Vielleicht haben seine Eltern ihn gegen seinen Willen reingeworfen, als er noch nicht schwimmen konnte.“
„Totaler Quatsch“, erwiderte Cangoo überzeugt. „Ein Krokodil, das Angst vor Wasser hat. So was gibt’s zum Beispiel überhaupt nicht.“
„Und wenn doch?“, fragte Watahulu.
„Dann muss es eben schwimmen lernen“, rief Cangoo. „Denn wovor man zum Beispiel Angst hat, das muss man extra tun. Sonst wird die Angst immer schlimmer.“
Seine ersten Schwimmstunden bekam Noko am See. Da wir ihn beim besten Willen nicht dazu bewegen konnten, auch nur in Ufernähe zu gehen, holte Watahulu ihm aus dem Internet einen knallroten Taucheranzug, in dem er sich sicherer fühlte. „In einem Taucheranzug zum Beispiel kannst du nicht untergehen“, schärfte Cangoo Noko so lange ein, bis er schließlich selbst dran glaubte. „Besonders nicht, wenn er rot ist.“
„Woher weißt du das?“, fragte Noko, dem die Zweifel ins Gesicht geschrieben standen.
„Lebenserfahrung“, prahlte Cangoo. Zögernd robbte das Krokodil etwas näher ans Ufer heran. „Na los, spring rein, du Angsthase!“, rief Cangoo ungeduldig und fing sich damit einen tadelnden Blick von Watahulu ein. Denn Watahulu war der Meinung, dass man jedem bei allem so viel Zeit lassen sollte, wie er dafür brauchte. Besonders, wenn jemand etwas zum ersten Mal in seinem Leben tat ... wie zum Beispiel Schwimmen. Ängstlich kroch das Krokodil noch einen Schritt näher ans Ufer, wo die Wellen leise an Land plätscherten. Plötzlich begann es wieder zu weinen. „Ein Taschentuch“, rief Watahulu aufgeregt. „Hat jemand ein Taschentuch?“ Missbilligend zog Cangoo eins aus der Tasche seiner grün-rot gepunkteten Latzhose und reichte es Watahulu. Der tupfte behutsam die Tränen aus Nokos Augen und trompetete ihm leise eine Melodie vor. Als Noko sich wieder halbwegs beruhigt hatte, beschlossen wir, seinen ersten Schwimmunterricht zu verschieben und uns stattdessen abends alle gemeinsam einen schönen Film im Kino anzusehen. Denn auch wenn er nicht ins Wasser gegangen war, war es schon sehr mutig von Noko gewesen, sich überhaupt in Ufernähe zu trauen. Wieder zu Hause diskutierten wir lange darüber, welchen Film wir uns ansehen sollten. Cangoo und mein Vater waren für einen Actionfilm, während Watahulu am liebsten etwas über Malerei gesehen hätte. Albert fand, Kino sei die reinste Zeitverschwendung, wenn man stattdessen ein philosophisches Buch lesen konnte. Und Noko hatte gar keine Meinung, da er noch nie im Kino gewesen war. Denn in dem Dorf am Nil, wo er aufgewachsen war, gab es keine Kinos. Weil wir uns nicht einigen konnten, warfen wir schließlich eine Münze. Die Wahl fiel auf eine Liebesgeschichte, womit vor allem ich zufrieden war. Denn in meiner Klasse gab es einen Jungen, den ich ziemlich gut fand. „Total blöd!“, rief Cangoo sauer, denn mit Liebe hatte er nicht viel am Hut. Da aber die Münze entschieden hatte, blieb Cangoo nichts anderes übrig, als entweder mitzugehen oder allein zu Hause vor sich hin zu schmoren. So entschied er sich für das Erste, setzte aber Watahulus Tarnkappe auf, weil es ihm peinlich gewesen wäre, von jemandem dabei ertappt zu werden, wie er sich einen romantischen Film ansah. Nachdem eine halbe Stunde vergangen war und der Junge dem Mädchen im Film ein Liebesgeständnis gemacht hatte, brach Noko in Tränen aus. Cangoo, dem das peinlich war, drückte sich trotz seiner Tarnkappe tief in seinen Sitz. Keine fünf Minuten vergingen, bis Noko so heftig schluchzte, dass wir mit ihm aus dem Kino gehen mussten. „Ich will auch jemanden haben, der mich liebt“, schluchzte das Krokodil auf dem Heimweg. „Aber wir lieben dich doch alle“, tröstete Watahulu ihn. „Das ist aber nicht dasselbe“, jammerte Noko. „Ich will jemanden, der nur mich liebt. Jemanden ganz für mich allein.“ Mein Vater und ich sahen uns ratlos an, während Cangoo, der die Tarnkappe inzwischen abgenommen hatte, weil sie drückte, etwa zehn Meter vor uns her hoppelte, so als würde er uns nicht kennen. „Wir fragen Albert, was man in so einem Fall macht“, sagte Watahulu aufmunternd zu Noko. „Bestimmt steht in seinen Büchern irgendetwas darüber.“
Zu Hause mussten wir Albert erst einmal suchen. Denn wenn er gerade ein Buch las, was er meistens tat, hörte er nicht, wenn wir ihn riefen. Nach einer Weile entdeckten wir seine Hülle in der Speisekammer, wohin er sich zurückgezogen hatte, um ungestört zu lesen. Albert hörte sich das Problem andächtig an, pendelte eine Minute unentschlossen in der Luft hin und her und sagte dann: „Noko ist traumatisiert.“ „Traumati... Was?“, fragte Cangoo gereizt, denn er hatte für Fremdwörter nichts übrig, schon gar nicht, wenn er das gleiche Wort zweimal in einer Woche hörte. „Er hat Depressionen“, erklärte Albert geduldig. Mein Vater erklärte uns, dass jemand, der diese Krankheit hatte, immerzu traurig ist. „Total verrückt“, erwiderte Cangoo gleichgültig, hüpfte mit einem Riesensatz in die Küche, wo er sich eine riesige Pfanne schnappte und zwanzig Fische auf einmal hineinwarf. „Was macht man in so einem Fall?“, fragte ich meinen Vater ratlos. Er zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Zuerst müssen wir herausfinden, warum er so oft traurig ist.“
„Und wenn er das selbst nicht weiß?“
„Vielleicht fühlt er sich einsam, und wir müssen ein zweites Krokodil auftreiben. Ein weibliches“, antwortete mein Vater.
„Noch so eine Heulsuse kommt mir nicht ins Haus!“, rief Cangoo, der mit einem Fischschwanz im Maul aus der Küche gehoppelt kam. „Und erst recht kein Mädchen. Mädchen machen zum Beispiel nur Stress und sind total uncool.“ Watahulu sah ihn unsicher an. „Aber wenn es ihm dabei hilft, weniger traurig zu sein?“ Nach langem Hin und Her kamen wir zu dem Schluss, dass ein Mädchenkrokodil wahrscheinlich nicht die richtige Lösung wäre und wir Noko nur genügend Zeit geben mussten, sich an uns zu gewöhnen. Eines Tages würde er schon merken, dass er uns nicht egal war, dachten wir. „Trotzdem müssen wir herausfinden, warum er immer so traurig ist“, beharrte Watahulu, der mit dieser Lösung nicht einverstanden war. „Am besten fragen wir ihn einfach.“
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