„Niemand ist unsterblich“, belehrte ich ihn.
„Albert schon. Hat er mir jedenfalls erzählt.“
„Wenn er reden kann, wieso sagt er dann nichts?“, fragte ich. „Weil er zum Beispiel seit ein paar hundert Jahren nicht mehr geredet hat und sich erst einmal wieder dran gewöhnen muss.“ Ich hockte mich neben Cangoo und starrte nun ebenfalls den leeren Stuhl an. „Ich sehe keinen Albert.“
„Du musst genau hingucken.“ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und machte Stielaugen. Kein Albert weit und breit. Cangoo wedelte ungeduldig mit seinem buschigen Schwanz und beförderte eine Obstschale vom Tisch. Apfelsinen und Äpfel rollten auf den Boden. „Siehst du nicht, wie er leuchtet?“ Ich kniff meine Augen zusammen und sah plötzlich eine Art rosa Hülle in der Größe einer mittelgroßen Dschungelpflanze vor mir. Aber das konnte ich mir auch genauso gut nur einbilden. „Du meinst, Albert steckt unter dieser Hülle?“
„Er kann verschiedene Gestalten annehmen“, erklärte mir Cangoo. „Im Moment ist er unsichtbar. Dich kennt er noch nicht. Logisch, dass er sich da erst einmal bedeckt hält.“
„Und seit wann kennst du ihn?“
„Seit heute Morgen um zehn vor fünf. Da wollte er im Internet zwei Kabel zusammenlöten. Die Dinger sind in Flammen aufgegangen. Und auf der Feuerwolke ist er aus dem Computer in dein Zimmer geschleudert worden.“
„Warum bitten wir ihn nicht, mit uns zusammen zu frühstücken? Albert hat doch sicher Hunger.“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Albert ernährt sich zum Beispiel nur von geistigen Dingen. Von Literatur.“
„Albert liest?“ Cangoo nickte nachdenklich. „Meistens philo... philo...“ Der Rest ging in einem unverständlichen Kauderwelsch unter. Mein Vater, der wieder reinkam und den Anfang des Gesprächs mitbekommen hatte, sagte: „Du meinst, er liest philosophische Bücher?“ Cangoos' Gesicht erhellte sich. „Genau.“
„Und was soll das sein?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Irgendetwas ziemlich Kompliziertes. Frag ihn am besten selbst“, meinte Cangoo.
„Warum heißt der Mensch Mensch?“, erklang plötzlich ein dünnes Stimmchen von dem leeren Stuhl.
„Keine Ahnung“, gab ich zurück. „Weil ihn irgendjemand mal so genannt hat.“
„Wann ist ein Tier ein Tier? Wieso haben wir ein Gehirn zum Nachdenken? Wieso denken wir manchmal so einen Blödsinn? Und warum kann ein Känguru hüpfen?“, fragte die Stimme wieder. „Das sind ziemlich schwierige Fragen“, erwiderte mein Vater und stellte seine Kaffeetasse, meinen Tee und einen Eimer heißen Kakao für Cangoo auf den Tisch. „Nein. Das ist Philosophie“, antwortete das Stimmchen.
„Mir egal. Willst du auch ein Brötchen?“, fragte Cangoo die Hülle, die unruhig in der Luft hin- und herschwebte. Wieder ertönte die Stimme. „Ich habe keinen Hunger. Ich habe heute Morgen schon fünf Bücher gegessen und bin pappsatt.“
„Kann ich mir vorstellen“, warf mein Vater trocken ein und schlug die Zeitung wieder auf. „Wie ist es, wenn man ewig lebt?“, fragte ich Albert.
„Total langweilig“, antwortete er. „Tagaus, tagein dasselbe. Ohne Ende.“ Die Stimme klang so betrübt, dass mir vor lauter Mitgefühl fast die Tränen kamen. „Vielleicht werden Gespenster einfach nur viel älter als wir und sterben erst mit tausend oder so“, flüsterte ich Cangoo nachdenklich zu. Der blickte die Hülle fragend an. „Wann stirbst du denn so zum Beispiel?“, fragte er neugierig. „Gar nicht“, sagte das Stimmchen. „Ich bin eine Art Seele ohne Körper.“ Ich nickte. Geschichten über unsterbliche Seelen hatte ich schon in meinen Indianerbüchern gelesen, auch wenn ich nicht genau kapierte, was damit gemeint war. „Hattest du denn früher einen Körper, als du noch jung warst?“ Wieder flatterte die Hülle unruhig auf und ab. „Früher war ich Baumeister von Beruf, dann Hofnarr am Königshof, später Weber und dann Opernsängerin in Mailand. Die anderen Sachen habe ich im Lauf der Zeit vergessen.“ Cangoo, der sich nie lange auf ein Gespräch konzentrieren konnte, sprang auf, hoppelte in die Küche und kam kurz darauf mit einem Berg übereinandergestapelter und mit Erdbeermarmelade bestrichener Pfannkuchen zurück. „Ich glaube, Albert ist nicht der Freund, auf den ich gewartet habe“, wisperte er mir kauend zu. „Das kann man nie wissen“, antwortete ich. „Gib ihm eine Chance.“ Cangoo guckte gelangweilt. „Von mir aus. Aber besonders lustig wird es wahrscheinlich nicht mit ihm.“
Wie sich bald zeigte, war Albert ziemlich bescheiden und kam wirklich ohne Essen und Trinken aus. Das Sprechen hatte er wieder aufgegeben. Wir bemerkten ihn nur dadurch, dass ab und zu eine Lücke in unserem Bücherregal klaffte, die später wieder geschlossen wurde. Manchmal sah man eine rosa Hülle durch die Wohnung schweben, die sich in ihrer Größe dauernd veränderte. Aber meistens zog Albert es vor, unsichtbar und auch unhörbar zu bleiben. Ab und zu spürte ich einen Windhauch am Hals und redete mir ein, dass er ganz in der Nähe war. Aber seit ein paar Tagen gab er keinen Mucks mehr von sich. Ich fragte mich, ob Gespenster auch Gefühle hatten oder ob ihnen während ihres unwahrscheinlich langen Lebens einfach alles egal wurde. Ich hätte mich gern mit Albert darüber unterhalten und ertappte mich manchmal dabei, wie ich mit der Luft sprach, wenn ich allein war. Aber ich bekam keine Antwort mehr. Dass Albert noch da war, merkte ich nur an den Lücken im Bücherregal. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr zu reden. Mein Vater war davon überzeugt, dass er schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte. In den nächsten Wochen ging alles wie gewohnt weiter. Ich ging wieder zur Schule, und mein Vater malte ein Bild nach dem anderen. Mir gefielen seine Bilder. Trotzdem wollte niemand eins kaufen. Cangoo verbrachte die Tage mit Angeln in Eislöchern und nahm ab und zu an einem Kängurutreffen im Internet teil, wo es immer eine Menge zu erzählen und zu essen gab. Seine Gedanken drehten sich hauptsächlich um den Speiseplan. „Woran denkst du?“, frage mein Vater ihn eines Morgens, als er beim Frühstück sorgenvoll seine Stirn in Falten legte. „Ans Mittagessen zum Beispiel.“
„Aber du frühstückst doch gerade. Und hinterher wirst du satt sein.“ Cangoo warf ihm einen Blick zu, der zeigen sollte, dass mein Vater nicht die geringste Ahnung hatte „Zum Beispiel im Augenblick leben ist gut“, erwiderte er nachdrücklich. „Aber wenn ich mir nicht jetzt schon überlegen würde, was ich später esse, müsste ich mich vielleicht mit etwas zufriedengeben, was ich nicht mag. Außerdem kann ich mich dann auf etwas freuen.“ Das, was er sagte, klang logisch. Trotzdem wollte mein Vater, der manchmal ziemlich dickköpfig sein konnte, unbedingt Recht behalten. „Aber wenn du jetzt nicht übers Mittagessen nachdenken und stattdessen etwas an die frische Luft gehen würdest, könntest du die wärmenden Sonnenstrahlen genießen.“
„Das kann ich auch, wenn ich dabei übers Mittagessen nachdenke. Dann freue ich mich nämlich doppelt“, gab er ihm prompt zur Antwort. „Und zum Beispiel hält doppelt besser.“ Er blinzelte mir fröhlich zu und verschlang zwei weitere Pfannkuchen. Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.
Nach wenigen Wochen hatte Albert alle Bücher, die bei uns im Regal standen, verschlungen. Er las ungefähr vier Bücher am Tag, was meinen Vater, der selbst gern las, beeindruckte. Wenn er das seit 873 Jahren gemacht hatte, musste er sehr klug sein und genau wissen, was die Welt zusammenhielt, meinte er. Da er Albert mochte, bat er Cangoo, ein paar neue philosophische Bücher aus dem Internet zu holen. Denn die Frage, woher die Menschen, Tiere und Pflanzen wohl kommen, warum sie auf der Welt sind und wohin sie gehen, wenn sie die Welt wieder verlassen, schien Alberts Lieblingsgebiet zu sein. Aber immer noch hatte er seit dem Tag seines Eintreffens kein Wort mehr mit uns gesprochen.
Читать дальше