Anfang Februar wurde Cangoo unruhig, weil er immer noch keinen richtigen Freund hatte. Mit Alberts Liebe zu Büchern konnte er nicht viel anfangen. Außerdem war Albert auch ihm gegenüber inzwischen völlig verstummt. Mein Vater glaubte, dass er in seinen früheren Leben zu viel geredet hatte, sodass ihm die Freude daran ein für alle Mal vergangen war. Nachts faltete er sich zusammen und schlief in unserer Dattelpalme auf der Fensterbank, wenn er nicht gerade wieder mit einer unsichtbaren Taschenlampe ein Buch verschlang. Viel Schlaf brauchte er anscheinend nicht. Meinem Vater kam es so vor, als wenn die Nächte in seinem Schlafzimmer seit Alberts Einzug heller geworden wären. Ganz sicher war er aber nicht. „Glaubst du, Albert liest auch nachts?“, fragte ich Cangoo. Er schüttelte den Kopf. „Er hat mir mal erzählt, dass er nachts mit seinem Engel chattet.“
„Engel? Gibt es denn welche?“
„Albert meint, Ja. Jeder hat einen Engel, manche zum Beispiel auch zwei.“ Na schön, wenn es einen lieben Gott gab, wie meine Mutter mir beigebracht hatte, bevor sie uns verlassen hatte, sprach schließlich nichts dagegen, dass es auch Engel gab. „Und Menschen? Haben die auch einen Engel?“ Cangoo sah fragend die Hülle an, die gerade oben am Fenster entlangschwebte. „Jetzt sag doch endlich mal wieder etwas“, murrte er. „Nur die, die ihn haben möchten“, erklang Alberts dünnes Stimmchen plötzlich wieder, denn das Thema schien ihn zu interessieren. „Aber nur diejenigen, die an Engel glauben, können sie auch sehen.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich schon einmal einen gesehen hatte. Aber geträumt hatte ich bereits von einem. „Manchmal nehmen sie auch Menschengestalt an, wenn es nötig ist“, fuhr Albert fort. „Aber jeder, der ihr Gesicht als Mensch gesehen hat, vergisst es sofort wieder. Das muss so sein.“
„Warum?“, fragte ich neugierig.
„Die Menschen dürfen das wahre Gesicht des Engels nicht sehen“, antwortete Albert. „Wenn sie es erblicken, müssen sie sterben.“
„Mir egal. Ich geh jetzt Schlittschuh laufen. Aber vorher brauche ich noch eine Stärkung“, sagte Cangoo und hoppelte mit zwei großen Sprüngen in die Küche. Kurz darauf duftete es in der ganzen Wohnung nach geschmolzener Butter.
Watahulu und die Dichterlesung
Seinen ersten richtigen Freund, einen Elefanten, fand Cangoo, als er eines Abends Anfang März durchs Internet kurvte. Er war auf der Suche nach tropischen Früchten und landete dabei in Südafrika. Watahulu erzählte Cangoo, dass er unbedingt eine klimatische Veränderung bräuchte. Als die beiden auf meiner Homepage ankamen, die ich inzwischen eingerichtet hatte, verkleinerte Albert ihn und Cangoo mit einem Zauberspruch, sodass beide ganz leicht aus dem Bildschirm herauskriechen konnten. „Vergrößere mich wieder“, bat Watahulu ihn, als er in Miniaturformat auf meinem Schreibtisch herumspazierte. „Mich auch!“, rief Cangoo. „Kehrt schnell zurück in eure Gestalt. Nach dem langen Gewirr im Kabelwald“ , rief Alberts dünnes Stimmchen und zauberte beide wieder auf ihre normale Größe zurück. Obwohl mein Vater Elefanten mag, war er am Anfang dagegen, Watahulu bei uns aufzunehmen. Aber Cangoo drängelte so sehr, dass er sich erweichen ließ. Bedrückt überlegte mein Vater, dass wir Watahulu unmöglich zumuten konnten, in unserem winzig kleinen Haus zu übernachten. Außerdem fragte er sich besorgt, ob der Boden nicht durchbrechen würde bei den 600 Kilo, die er ungefähr wog. „Kein Problem“, beruhigte Cangoo ihn, als hätte er seine Gedanken erraten. „Albert kann ihn ja ab und zu verkleinern. Und im Garten ist auch Platz.“
„Und was soll er fressen?“ Soviel ich wusste, fraßen afrikanische Elefanten mindestens hundert Kilo am Tag. Und mein Vater dachte mit Schrecken an unsere Wasserrechnung, falls Watahulu mal keine Lust hatte, Wasser aus dem Internet zu trinken. „Am liebsten mag er Traubenzuckerbonbons“, sagte Cangoo versonnen. „Und Bananen.“ Bald zeigte sich, dass Watahulu nicht nur Bananen mochte, sondern auch klassische Musik. Jedes Mal, wenn mein Vater ein Geigen- oder Klavierkonzert auflegte, spitzte er seine großen Ohren und hob seinen Rüssel anerkennend ein Stück hoch. Wenn er gut gelaunt war, trompetete er zum Leidwesen von Cangoo alle Melodien mit, denn er hatte ein phänomenales Gedächtnis und erinnerte sich an jede Note, die er gehört hatte. Aber er war ziemlich schüchtern, und es musste schon viel passieren, bis er mal einen Satz zusammenbrachte. Wir nahmen ihn bei unseren Spaziergängen immer mit zum See. Für Watahulu gab es kein größeres Vergnügen, als sich in die Fluten zu stürzen und fröhlich schnaubend eine Weile im Wasser zu plantschen. Als er ein wenig Vertrauen zu uns gefasst hatte, erzählte er uns, dass er südlich der Sahara aufgewachsen war. Landwildjäger hatten seine Eltern wegen ihrer Stoßzähne getötet. Jedes Mal, wenn er daran dachte, dass Teile seiner Eltern zu Schmuckstücken und Elfenbeinschnitzereien verarbeitet worden waren, schauderte es ihn und Krokodilstränen flossen aus seinen Augen. Dann hatten wir die größte Mühe, ihn wieder aufzumuntern. Nur der Gedanke an ein echtes Schlammbad versetzte ihn in bessere Laune.
Bei unseren täglichen Parkspaziergängen zogen wir es vor, ihm eine Tarnkappe aufzusetzen, die Albert erfunden und ihm geschenkt hatte. Denn er fraß mit Vorliebe Wiesen kahl und zerkleinerte alle Äste, an die er herankam. Sogar unser Gemüse und Brot mussten wir vor ihm in Sicherheit bringen, weil er beides fast noch lieber mochte als Traubenzuckerbonbons und nicht mehr zu halten war, wenn er ein Stück Spargel oder eine Sellerieknolle entdeckte. Eines Tages bat er Albert, ihm etwas aus seinen philosophischen Büchern vorzulesen und hörte ganz versunken zu. Denn er hatte in seinen jungen Jahren schon vieles erlebt und war froh, dass er nun einiges davon verstand. Cangoo ärgerte diese Zuneigung zwischen den beiden. Eifersüchtig versteckte er eines Tages die Tarnkappe, sodass Watahulu auf seinen täglichen Parkspaziergang verzichten und sich stattdessen Wälder im Internet heraussuchen musste, in denen er spazierengehen konnte. Ein Känguru ging ja gerade noch so. Aber ein Känguru und ein Elefant ... Wahrscheinlich hätten uns die meisten Leute ziemlich blöd angesehen, wenn sie uns mit beiden zusammen im Park gesehen hätten. Jedenfalls fühlte Watahulu sich von Tag zu Tag wohler bei uns. Um ihn wieder auf seine Seite zu ziehen, brachte Cangoo ihm eines Morgens im April zehn rohe Fische aus dem Internet mit. Weil er nicht undankbar erscheinen wollte, verkleinerte Watahulu sie und würgte sie herunter. Aber eigentlich war er Vegetarier und aß aus Prinzip nichts, was ein Gesicht hatte. Obwohl wir ihm einen großen Traubenzuckerbonbon zum Schlafen besorgt hatten, übernachtete er lieber im Kleiderschrank. Zwischen all den Hemden, Kleidern und Pullovern fühlte er sich pudelwohl und nahm dafür sogar in Kauf, dass Albert ihn nachts verkleinerte. Eines Morgens vergaß Albert vor lauter Zerstreutheit die Zauberformel, mit der er Watahulu wieder vergrößern konnte. So kam es, dass Watahulu die Welt einen ganzen Tag lang aus einer anderen Perspektive erlebte. Zum Glück fiel Albert die Zauberformel später wieder ein und er beamte Watahulu, der schon ungeduldig wurde, eilig auf seine ursprüngliche Größe zurück. Streit und Diskussionen mochte Albert nämlich überhaupt nicht. Im Gegensatz zu Cangoo der immer auf der Jagd nach etwas Essbarem war, war Albert schon zufrieden, wenn er ruhig am Fenster entlangschweben und dabei ungestört ein Buch lesen konnte. Eines Nachmittags im März, als Albert und Watahulu sich gerade wieder über die Frage unterhielten, warum man auf der Welt ist, warf Cangoo wütend einen Atlas an die Wand. „Wieso redet ihr immer so einen totalen Quatsch, der niemanden interessiert?“, stieß er wütend zwischen zwei Bissen Forelle hervor. Watahulu, der solche Ausbrüche von Cangoo nicht gewohnt war, zog eingeschüchtert seinen Schwanz ein, während Albert sich auf der Stelle unsichtbar machte, sodass nicht mal mehr seine Hülle zu sehen war. Angriffslustig funkelte Cangoo Watahulu an und boxte mit den Vorderpfoten. „Sag schon. Was soll der Blödsinn?“ Ein langes Schweigen entstand. Dann klapperte Watahulu mit den Ohren. „Wir denken, also sind wir“, erwiderte er leise, aber mit Nachdruck. „Totaler Quatsch!“, schrie Cangoo. „Wer denkt? Wer ist? Was soll das? Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Da Cangoo immer wütender wurde, mischte mein Vater sich ein. „Jedem das seine“, versuchte er, Cangoo zu beruhigen. „Wenn Watahulu und Albert denken wollen, dann lass sie denken.“
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