
Und an jedem Abend treffen sich eine ganze Menge von Eltern und Großeltern mit Kleinkindern in einem kleinen Hof am Kanal, der mit ein paar Turn- und Gymnastikgeräten bestückt ist, an denen Kinder und alte Menschen ihre Übungen machen, umgeben von einem kleinen Gärtchen und weiter hinten ist sogar ein kleines Tempelchen, wo alte Sessel herumstehen und in dem ringsum ein Bänkchen zum Ausruhen einlädt und dahinter ist ein liebevoll gepflegter kleiner Park, dem man ansieht, dass er nicht von Bediensteten der Verwaltung, sondern von Anwohnern betreut und verwöhnt wird. Der kleine Garten ist sehr nahe an einer dicht befahrenen Straße, die sich zum Glück durch das Bollwerk einer hohen Mauer getrennt auf einer höheren Ebene befindet und sich dann über eine Brücke schwingt. Aber der Lärm und das Gehupe der Fahrzeuge dringt doch herunter, wobei man diesen Lärm kaum mehr wahrnimmt, weil man ihn überall hat, eine Art Hintergrundrauschen, das allgegenwärtig die Stadt durchdringt. So lernen wir also Chen Li Han, Le le, Bei Bei und Dong Dong kennen.
Chen Li Han wohnt in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Nachbarhaus. Er ist ein paar Wochen älter als Anna, sieht aber im Vergleich zu Anna viel älter aus, ein runder, starker, ruhiger Kerl mit dichtem schwarzen Haar, das ihm kräftig emporsteht. Er hat einen festen selbstsicheren Blick, der sagt: Mich kann nichts erschüttern. Zugleich strahlt er etwas Schwerfälliges aus, etwas Gutmütiges und Braves. Man kann ihn sich als Wächter oder Bodyguard vorstellen, der macht was man ihm sagt, ohne groß zu fragen, der treu ist und stark und kämpft bis zum Tod. ,
Unsere kleine Anna ist im Gegensatz zu ihm viel zarter, leicht erregbar, sehr empfindlich, unruhig, immer sich schnell hin und her drehend, wenn wir unterwegs sind, aufmerksam und sehr interessiert alles betrachtend, was ihr ins Auge springt, von jedem kleinen Geräusch aufgeschreckt, schnell von Lachen ins Weinen hinüberspringend und wieder zurück, immer in Bewegung, es sei denn, sie ist müde und gut behütet, dann fällt sie in ein dösendes Dämmern und hängt mit schweren Gliedern in den Armen des Glücklichen, der sie dann trägt.
Chen Li Hand habe ich noch nie mit seinen Eltern gesehen, sondern nur immer mit seiner Großmutter. Sophie sagt, die Eltern wohnten nicht so weit weg, aber würden ihn nur am Wochenende zu sich nehmen, die ganze Woche über sei er bei den Großeltern Ein typisch chinesischer Zustand. Die meisten Kinder wachsen so auf.
Lele, einen Jungen, habe ich schon öfters mit seiner Mutter und seinem Vater gesehen, weil er mit ihnen zusammen wohnt, aber die haben Verstärkung bekommen durch ihre Großeltern, die jetzt mit ihnen zusammen in einer Wohnung leben. Le les Vater ist in der Shanghai Bibliothek als einfacher Angestellter beschäftigt, das heißt, seine Wohnung wird nicht so groß sein und sie alle werden recht beengt zusammen wohnen. Lele hängt meistens träge und schwerfällig im Kinderwagen herum und schaut einen mit großen staunenden Augen an.
Dong Dong ist schon etwas älter als unsere Anna, er hat ein hübsches, bewegliches, zartes und aufmerksames Gesicht. Seinen jungen Vater habe ich bisher nur einmal kurz gesehen als ich an einem sonnigen Sonntagmorgen auf der kleinen Fußgängerbrücke stand, die über den Kanal führt, der unseren Wohnbezirk in zwei Hälften zerschneidet. Er macht einen sympathischen, offenen Eindruck und sagte, dass er für eine IT- Firma arbeite. Dong Dongs Großvater, ein kleiner untersetzter und freundlicher Mann mit einem irgendwie verhärteten Gesicht, das an einen Nussknacker erinnert, kommt aus einer Provinz im Südwesten Chinas. Er erzählt, er sei Lehrer gewesen, während der Kulturrevolution habe man ihn öffentlich gedemütigt und geschlagen. Seine Frau, ein altes verhuzzeltes Weibchen, das sehr ländlich aussieht, bringt manchmal eine große Decke mit, breitet sie mitten auf den kleinen Beton-Platz im Park des Wohnbezirks aus und setzt sich mit Dong Dong, Esswaren und Spielsachen darauf. Sophie und ich wir gesellen uns dann mit Anna gerne dazu. Rings um uns herum andere Mütter und Großmütter, Kinder und kleine Hunde. Ein großes Geschwätz und familiäres Zusammensein.

Die schöne Lili
Dienstag Abend, ich habe eine Abendklasse, in der Pause schlendere ich durch den halbdunklen Gang, es ist kurz vor neun, plötzlich sehe ich die schöne Lili aus einem Klassen-Zimmer kommen, das dunkel ist, sie scheint erschrocken, mich zu sehen, grüßt aber freundlich wie immer, ist irgendwie erregt oder aufgedreht, errötet, lacht, Gekicher schwebt durch den Raum. Was macht sie denn allein in einem dunklen Klassenzimmer oder was ist hier eigentlich los? Aus purer Neugier gehe ich ein paar Schritte nach vorne und stecke meinen Kopf durch die Tür, die sie schon halb hinter sich geschlossen hat, da sehe ich aus dem Dunklen einen jungen Mann auf mich zukommen, auch er irgendwie verlegen, erschrocken, ein schönes, zartes, aufrichtiges Gesicht, ich fahre zurück, „Sorry“, drehe mich um, gehe weg, ihr Liebhaber vermutlich….
Die Studenten haben keine eigene Wohnung, müssen sich ihr Zimmer mit ein paar anderen Studenten teilen. Abgesehen davon dürfen Mädchen sowieso nicht in die Wohnheime für Jungs und umgekehrt. Rückzugsorte sind rar, weshalb verliebte Pärchen, die ein wenig Abgeschiedenheit suchen, gezwungen sind, leere Klassenzimmer aufzusuchen, wenn sie Glück haben, welche zu finden, weil eifrige Bedienstete sie normalerweise sofort wieder schließen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Eine Reihe von Zimmern wird auch speziell für Hausaufgaben machende Studenten offen gelassen, aber die sind dann meistens tatsächlich voll mit Studierenden, die schweigend in ihre Bücher und Labtops vertieft sind. Im Sommer sind die Wiesen im Dunkeln mit Liebenden belegt, auchTreppenhäuser von Unterrichtsgebäuden, dunkle Gänge, verschwiegene Ecken unter Treppen sind beliebt.
Zum Glück werden Liebende toleriert, man sieht eine ganze Menge von Studenten Hand in Hand spazieren gehen bei Tag und Nacht, noch zu Maos Zeiten wurde so etwas als westliche Dekadenz hart bestraft.
Bisher war die schöne Lili die unschuldige junge Schöne für mich, die still vor sich hin blüht und mir ab und zu süße Mädchenhafte Blick zuwirft und wir waren zwei Königskinder, die sich immer zueinander sehnen aber nie zueinander kommen und sie stand hoch auf einem eisigen Gipfel der Unberührbarkeit im Glanz ihrer Jungfräulichkeit, jetzt ist sie für mich gestorben.

Monsterbabies
Immer wieder nehme ich Sophies Hände in meine, halte ihre Daumen von meinen Händen umschlossen, halte sie warm wie in einer schützenden Höhle und manchmal bete ich, dass sie bald wieder gesund werden. „Ein bisschen besser ist es schon“ sagt sie.
Ein kleines Kind ist ständig in Gefahr von Krankheitskeimen überschwemmt und ins Grab gezogen zu werden, besonders in den östlichen Regionen Chinas, wo die Luft im Sommer so heiß und feucht ist, so Sophies Credo. Also muss geimpft werden. Zehn Impfungen stehen auf dem staatlichen Programm, die zwar nicht absolute Pflicht, also Gesetz sind, aber doch dringend empfohlen werden, Impfungen gegen alle möglichen Arten von Kinderkrankheiten, auch Kinderlähmung, Tuberkulose, Gehirnhautentzündung....
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