Ulrich Wessinger
Da!
Ein kleines Mädchen in Shanghai
Wer, was, wieso?
Ich bin nach China gekommen, um eine reiche chinesische Frau zu heiraten, sagte ich manchmal, wenn mich die Chinesen fragten, warum ich nach China gekommen sei.
Dann lachten alle, weil es normalerweise genau umgekehrt ist. Fast alle jungen chinesischen Frauen träumen von einem westlichen reichen Mann, der sie in die Fremde entführt. Was sie nicht wussten und was ich auch nicht genauer erklären wollte, war, dass mein lustiger Spruch von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt war. Ich kam mit Schulden nach China und heiratete eine chinesische Frau, die eine ganz ordentliche Summe auf ihrem Konto hatte. Das war natürlich nicht der Grund, warum ich sie heiratete. Dass ihre Konten gut gefüllt waren hätte ich nicht erwartet und habe ich auch erst nach der Hochzeit erfahren. Aus Sparsamkeit hat sie ihr ganzes Leben, bevor sie mich heiratete, in einem kleinen Zimmer der engen Zwei-Zimmer-Wohnung ihrer Eltern in Shanghai verbracht. Ihr habe ich jetzt meinen bescheidenen Reichtum zu verdanken, alles was sie in ihrem zwanzigjährigen Berufsleben als Bibliothekarin angespart hat. Und sie spart sehr heftig, wie sowieso die meisten Chiesen große Sparer sind. Ganz anders wie die westlichen Menschen haben sie sich noch nicht dem leichtsinnigen Konsum auf Kredit hingegeben.
Aber meine Frau ist natürlich nicht nur eine fleissige Sparerin, die in einem Supermarkt jede Ware dreimal herumdreht und mit anderen vergleicht, sondern auch eine schöne intelligente Frau und wie ich an Büchern, Ideen, der geistigen Welt interessiert.
Der Bericht schildert mein Zusammenleben mit ihr, wie wir umgeben von der tosenden Monsterstadt unser Kind von der Geburt an bis zum Alter von knapp zwei Jahren pflegen, hätscheln und emporwachsen sehen bis wir, gezwungen durch eine immer stärker werdende Luftverschmutzung, das Weite suchen.
Geburt
Am Morgen um neun Uhr muss Sophie auf die Entbindungsstation, denn jetzt muss das Kind raus, zu viel Fruchtwasser ist schon entwichen. Ich begleite sie mit den notwendigen Habseligkeiten in Taschen zur Tür der Geburtsräume, betreten darf ich sie nicht. Das würde erst in der letzten Phase der Geburt, wenn das Kind dabei ist, heraus zu kommen, erlaubt. Sophie würde mich rufen, wenn es so weit sei. Ich spüre mein Handy in meiner Hand, das ist jetzt meine Verbindung zu ihr, küsse sie und sehe wie die Tür vor meiner Nase zuklappt. Jetzt muss ich warten wie alle anderen auch, die mit bangen Mienen auf den roten Plastikschalen hocken.
Ich gehe spazieren und wandere im Schneetreiben durch die Strassen, vorne an der Ecke bei der U-Bahnstation wächst ein riesiger Koloss in den grau verwehten Himmel empor, zwei mächtige Türme ragen in den weissen Nebel hinein. Lächerlich winzig wie aus einem mittelalterlichen Dorf sehen dagegen die kleinen Häuschen aus Kolonialzeiten aus, die in derselben Straße noch stehen. Ich habe mich schon oft gewundert und ich tue es immer noch und immer wieder, wie die etwas schmächtigen, in der Mehrzahl kleinen, jedenfalls was die ältere Generation betrifft, kleinen Menschen solche gigantischen Ungetüme aus Stahl, Glas und Beton bauen können, die in Shanghai und den großen Städten überall herumstehen in großer Zahl und ständig kommen neue dazu. Allerdings habe ich, wenn ich sie sehe, meistens das Gefühl, als seien sie nicht echt, sie kommen mir vor wie aus Pappe, Kartenhäuser, die jeden Moment einstürzen könnten.
Sophie bekommt eine Infusion und die Schmerzen setzen schnell ein in einer Intensität, die weit höher scheint als das was sie beim ersten Versuch erlebt hat. Auch die Geschwindigkeit mit der die Atempausen zwischen den Schmerzintervallen verschwinden ist höher. Wenn Sophie daran denkt, dass dies erst der Anfang ist und es dann meistens viele Stunden dauert bis die Geburt einsetzt, kann sie die Schmerzen kaum mehr ertragen. Eine Frau neben ihr brüllt immer wieder wie ein Tier und schreit dazu nach einer Operation, die sie endlich von der Raserei erlösen soll. Aber die Schwestern kennen das schon und lassen sie mit ein paar tröstenden Worten wieder allein und weiterschreien.
Ich hatte gehofft, dass gegen Mittag die frohe Botschaft kommt und ich in die Entbindungsstation gerufen werde, aber um zwei Uhr ist immer noch keine Nachricht gekommen. Immer wieder schaue ich auf das Display, überprüfe ob das Handy auch genug Strom hat, das Handy scheint völlig in Ordnung, aber ist Sophie in Ordnung? Ich rufe an und Sophies Stimme scheint weit weg zu sein, völlig erloschen, am Ende ihrer Kräfte. Ich mache ihr Mut so gut ich kann, je länger es dauert, desto näher kommt die Geburt, sage ich, Sophie weint.
Gegen drei kommt ihre SMS, dass sie es aufgegeben habe, eine natürliche Geburt zu erwarten, jetzt könne nur eine Operation noch helfen. Sophie ist verzweifelt, die Schmerzen halten ungemindert an. Ich stehe draussen auf der Strasse und schaue den im Rohbau stehenden Turm entlang nach oben in den verhangenen Himmel und eine dunkle Wolke der Angst und Bedrückung liegt über mir. „Bitte Vater, hilf Sophie, dass alles gut geht, dass das Kind gesund zur Welt kommt und Sophie das gesund überlebt! Bitte Bitte! lass die Geburt endlich losgehen!“ rufe ich still nach oben in den Nebel hinein.
Gegen vier tauchen zwei Frauen auf, eine Ärztin und eine Schwester, die Sophie Hoffnung geben, die Vagina sei schon zwei Finger weit offen, wenn sie drei Finger weit offen sei, könne man den Geburtsvorgang einleiten. Ausserdem sagen sie Sophie, dass die Schmerzen bei der eigentlichen Geburt nicht stärker sondern geringer seien als jetzt. Sophie fällt ein Stein vom Herzen: Wirklich? Sie kann es nicht glauben, außerdem würde sie ganz sicher auch ein Schmerzmittel bekommen. Und eine Hebamme sei bei ihr, eine Ärztin stehe auch bereit. Die beiden kommen ihr wie Engel vor.
Gegen fünf plötzlich Sophies Anruf, ich soll kommen, es geht los!
Ich renne hoch zur Entbindungsstation. Sophies Mutter steht besorgt an der Tür. Sie ist schon informiert, drückt mir eine Tasche mit Wasserflaschen und Papiertaschentüchern in die Hand. Ich werde hineingelassen, muss blaue Kunststoffhüllen über meine Schuhe ziehen. Sophie kommt mir entgegen, einen blauen Bademantel um, ihr Gesicht aufgelöst in Tränen, sie sinkt in meine Arme. Ich bin dankbar dass ich das jetzt erleben darf, irgendetwas Grosses geschieht und ich bin Teil davon.
Mühsam schleppt sie sich von mir gestützt in einen der Entbindungsräume, es gibt vier oder fünf auf dieser Station. Dann wird sie tatsächlich auf so einen Liege gehoben, wie ich sie schon in Filmen gesehen habe. Links und rechts Stützen für die Beine, die Beine weit auseinander, ich werde zum Kopfende des Bettes bugsiert, wohl damit ich nicht so genau sehen kann, was dort unten los ist, wo das Kind jetzt sehr bald rauskommen muss, so hoffen wir. Zwei, drei Schwestern kümmern sich jetzt um Sophie. Rechts von mir hinter einem blauen Plastikvorhang ist eine andere Frau dabei, ein Kind zu gebären. Eine Schwester, vielleicht eine Hebamme feuert die Schwangere an mit „ Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“
Es kommt es kommt es kommt es kommt es kommt!
Und immer wieder in voller Lautstärke: „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“
Mit hoher fasst kreischender Stimme wie ein irrer Singsang... „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“
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