Der Angriff der Armeen aus Morak hatte Kalteon vom Rest der Welt abgeschnitten, denn sie griffen das Königreich von drei Seiten aus an.
Im Norden, Westen und Osten wurde gekämpft, so dass es im Augenblick nicht klar war, ob wir überhaupt noch eine Möglichkeit hatten, das Land zu verlassen, ohne uns irgendwie an den Kämpfen vorbei schleichen zu müssen.
„Nach Süden zu ziehen, wäre wirklich der letzte Ausweg.“, gab ich zurück.
„Suchen wir lieber einen Weg um die Kämpfe herum, falls wir nicht in Kaltarra sitzen und warten können, bis es vorbei ist.“
„Wir bleiben auf jeden Fall so lange, bis meine neuen Kleider fertig sind.“, entgegnete Jiang bestimmt.
Wie üblich war ihre Antwort nicht als Bitte formuliert, sondern als Feststellung. Unter ihrem Strohhut, lag ihr Gesicht im Schatten und verbarg so ihre mandelförmigen Augen.
Sie sprach wenig, aber stets mit energischem Ton, so dass wir alle oft das Gefühl hatten nur ihre Diener zu sein.
Doch dass sie sich auch anders zu verhalten mochte, hatte sie gestern demonstriert, als sie mich darum gebeten hatte, auszupeitschen.
Das war für mich eine unglaublich blöde Idee, und verstanden hatte ich ihre Gründe auch nicht richtig. Daher hatte ich mich geweigert. Noch immer grübelte ich darüber, wie sich das Verhältnis zwischen uns deshalb wohl entwickeln würde.
„...wie siehst Du das?“
Anayas Stimme unterbrach meinen Gedankengang.
„Was? Entschuldige, ich habe nicht zugehört.“
„Ich habe gefragt, ob wir uns eine Karte von Kalteon besorgen sollten, auf der auch die kleinen Täler eingezeichnet sind.“, wiederholte sie.
Ich überlegte einen Moment.
„Klingt gut. Wird aber vermutlich nicht billig.“, gab ich dann seufzend zurück.
Seit wir die Magana mitschleppten, schmolz meine Barschaft wie Schnee in der Sonne dahin. Und günstiger würden Waren und Dienste auch nicht werden, so lange hier Krieg herrschte.
Die Szenerie der verschneiten Landschaft durch die wir ritten machte den Gedanken an das Leid und den Tod absurd, die nur wenige Meilen weiter herrschten.
Hier war noch alles ruhig und friedlich und bis auf die Patrouillen weitgehend menschenleer. Hin und wieder entdeckten wir auch Bauern, die unter dem Schnee die Akaria-Wurzeln aus dem gefrorenen Boden ausgruben, aber ansonsten gab es in der verschneiten Landschaft nur wenig Abwechslung.
Nicht selten dagegen, flogen Krähen krächzend über uns hinweg. Sie hatten es auf die Wurzeln abgesehen, die die Bauern vergaßen oder übrigließen, weil sie zu klein geraten waren. Die Blüten und Blätter der Pflanzen waren giftig, die Wurzeln dafür süßlich und äußerst nahrhaft.
Bis auf den Wind und unsere eigenen Schritte war dies das einzige Geräusch, das uns auf dem Weg begleitete.
Als die letzten Strahlen der Sonne schließlich hinter den Bergen verschwunden waren, tauchten in der Ferne bald darauf die Lichter der Stadt auf. Ich schätzte, dass wir noch zwei oder drei Kerzenlängen brauchen würden, ehe wir die ersten Häuser passieren würden.
Wir verzichteten erneut darauf, Laternen oder Fackeln anzuzünden, die Dunkelsicht von Shadarr und den Nachtmahren war genug, um auf dem Weg zu bleiben.
Außerdem wollten wir nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig auf uns lenken. Noch hatten wir keine Truppen aus Morak im Herzen von Kalteon angetroffen, aber ich befürchtete, dass wir uns nicht darauf verlassen konnten, dass es hier keine Augen und Ohren gab, die Morak berichteten.
Zum ersten Mal empfand ich die Stärke unserer Gruppe als Nachteil. So mächtig Kmarr und Shadarr im Kampf auch sein mochten, zusammen mit mir, Anaya und Jiang waren wir nicht zu verwechseln. Jeder der uns einmal gesehen hatte, würde keine Schwierigkeiten haben, sich an uns zu erinnern.
Ich teilte den anderen meine Gedanken mit.
„Das werden wir nicht verhindern können.“, antwortete Anaya als Erste nachdenklich.
„Die Frage ist vielmehr, ob wir wichtig genug sind, dass die Spione aus Morak versucht sein könnten, uns anzugreifen.“, ergänzte Kmarr mit ruhiger Stimme.
„Wir nicht, aber die Magana vielleicht.“, warf Jiang ein: „So lange wir nicht wissen, weshalb die Soldaten aus Morak hinter ihr her sind, ist sie ein Risiko.“
„Du willst sie doch nicht etwa zurücklassen? Ich dachte das hätten wir schon besprochen.“, erwiderte ich überrascht.
„Nein. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass sie diejenige ist, die Schutz braucht. Wir sind höchstens im Weg.“, gab sie zurück ohne dabei die Stimme zu erheben.
„Vielleicht sollten wir zusätzliche Wachen anheuern.“, grübelte Kmarr halblaut.
„Wie können wir denen vertrauen? Wenn sich ein Spion darunter mischt, laden wir unsere Gegner doch geradezu ein.“, widersprach Anaya wenig angetan.
„So würde man es in Shâo machen.“, nickte Jiang zustimmend: „Ein Frosch schmückt sich mit Federn, will er nicht vom Reiher gefressen werden.“
Ihr schulmeisterlicher Tonfall ging mir mal wieder gehörig auf die Nerven, daher war ich geneigt, Kmarr zuzustimmen.
„Ich finde den Vorschlag nicht schlecht, wir müssen den Söldnern ja nicht sagen, worum es wirklich geht, nur dass sie den Flur oder die und die Tür bewachen sollen. Oder wir lassen sie gar nicht erst ins Haus, sondern postieren sie darum. Zumindest hätten wir so eine erste Warnung, ehe wir ungebetenen Besuch bekommen.“
„Wir können Wachen aus der Diebesgilde rekrutieren.“, überlegte Jiang.
„Was, Du willst mit Verbrechern arbeiten? Und was wenn sie uns beklauen, während sie Wache schieben?“, entgegnete Anaya entsetzt.
„Diebe haben einen Ehrenkodex. Die meisten Diebstähle werden beauftragt. Ein Dieb schleicht sich selten auf gut Glück in das Haus eines Reichen, um nach wertvollen Dingen zu suchen. Zu großes Risiko. Meistens werden sie beauftragt etwas Bestimmtes zu stehlen. Wenn sie einen Auftrag angenommen haben, führen sie ihn auch aus.“, Jiang klang sehr überzeugend.
Auch als sie fortfuhr: „Außerdem wird das Letzte, was die Spione aus Morak erwarten sein, dass wir Schurken und Halsabschneider anwerben, um uns und die Magana zu schützen.“
Das leuchtete mir ein.
Wir diskutierten den Vorschlag eine Weile, bis wir uns schließlich doch dagegen entschieden, denn wie Anaya zu bedenken gab, mochten Moraks Spione ebenfalls Kontakte zur Diebesgilde haben. Wenn dem so war, dann waren sie längst vor uns an die Diebe herangetreten.
Nachdenklich warf ich den beiden Frauen Blicke zu. Bisher hatte es noch keine Gelegenheit gegeben, mit Anaya über das zu reden, was Jiang gesagt hatte.
Ich wollte sie nicht in alles einweihen, aber ich wollte ihr auch nicht verschweigen, was passiert war. Das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, waren zwei Frauen, die mir Schwierigkeiten bereiteten.
Wie aufs Stichwort erklang Shadarrs Stimme in meinen Gedanken:
‚Richtgut möchte Paaren mit Rudelführer.
Flinkhuf unsicher, möchte erst Worte tauschen – und dann auch Paaren mit Rudelführer.’
‚Danke. Das weiß ich schon’, gab ich entnervt zurück.
‚Dann Paaren mit beiden. Große, starke Kinder machen. Rudel zu klein.’
Als ob wir jetzt Kinder gebrauchen könnten. Im Geiste sah ich mich umgeben von einer Horde Kinder, die lachend und schreiend zwischen meinen Beinen herumrannten und abwechselnd auf Shadarr reiten wollten.
Shadarr empfing offenbar die Bilder, denn er knurrte zustimmend.
Unaufgefordert mischten sich Bilder von kleinen Kargat darunter, die sich an dem Chaos beteiligten.
‚Hey, nicht so schnell, das war nur ein Gedanke.’
‚Rudelführer denkt klug. Nachkommen wichtig.’
‚Ich hab' s aber nicht eilig mit Kindern.’
‚Bald Zeit für Shadarr. Suchen starkes Weibchen für viele Kinder.’
Читать дальше