Kai hatte den Kopf geschüttelt und ihm gesagt, er brauche das nicht und hatte das Schriftstück zerrissen. Eigentlich hatte genau diese Handlung gezeigt, wie reif der Jugendliche für sein Alter war. Doch Fritz hatte nur genickt und war seit damals immer für Kai dagewesen, wenn er jemanden brauchte, mit dem er reden konnte. Seine Farm war die Zuflucht geworden, die Kai aufsuchte und ein Ort, an dem er sich wohlfühlte und zuhause war. Als Hetty vermisst wurde, war Fritz derjenige gewesen, der ihn in seiner Meinung bestärkt hatte, sie würde noch leben. Und jeder wusste, dass Fritz Kai wie seinen eigenen Sohn liebte und wenn er sterben würde, dann verlöre Kai zum zweiten Mal den Vater.
Patrick konnte sich deshalb nur zu gut vorstellen, wie es momentan in Kai aussah. Mit leiser Stimme sagte er. »Er schafft es! Da bin ich mir sicher. Du weißt doch, die Überlebensrate ist umso besser, je schneller die Hilfe einsetzt. Wir waren sofort da und der Notarzt hat ihm Lyse gespritzt. Es wird dauern, bis er wieder gesund wird, aber er schafft es!«
Kai drehte sich langsam um und sah in die blauen Augen, die ausnahmsweise nicht den neutralen Ausdruck zeigten, hinter dem Patrick sich ihm gegenüber immer versteckte, sondern ihn mitfühlend ansahen. Es war schon seltsam. Genauso wie er immer eine Ahnung hatte, wie es in Patrick aussah, so hatte der inzwischen auch einen Sensor dafür entwickelt, was er fühlte. Und momentan konnte er seelischen Beistand wirklich gebrauchen.
Er seufzte und antwortete. »Das hoffe ich von ganzem Herzen und an die Alternative will ich gar nicht erst denken. Aber jetzt muss ich mich um Dolly kümmern. Und du wirst die nächste Zeit ganz schön ran müssen, denn du musst die Firma alleine leiten.«
Patrick zuckte mit den Schultern und meinte. »Flieg du jetzt erst mal los, den Rest kriegen wir schon irgendwie.«
Er wirkte nicht im geringsten beunruhigt, dass die Last eines Millionenimperiums die kommenden Tage ganz alleine auf seinen Schultern ruhen würde. Wenn man daran dachte, wie sehr er bei seiner Heirat vor sieben Jahren mit dieser Vorstellung gerungen hatte, dann konnte man kaum glauben, dass sich aus dem unsicheren Jungen von damals, ein so selbstsicherer und souverän auftretender Mann entwickelt hatte. Aber Patrick war in den vergangenen Jahren sehr gereift und Kai wusste auch, dass nicht nur die Last der Geschäftsführung der Erzmine dazu beigetragen hatte. Er war oft genug Zeuge davon gewesen, welche Seelenqualen Patrick durch seine, immer noch vorhandene Liebe zu Hetty durchleben musste. Wenn jemand eine Ahnung davon hatte, was Leiden bedeutete, dann dieser Junge.
Er ging los und drehte sich nach ein paar Schritten nochmal um. »Danke!«
Patrick sah ihm nach, als er die Treppe hinaufging. Auch er hatte Angst um Fritz. Schließlich hatte sein Schwiegervater ihn immer wie einen zweiten Sohn behandelt und dabei auch keine großen Unterschiede zwischen ihm und Kai gemacht. Aber im Gegensatz zu Kais Eltern, waren seine eigenen noch am Leben und würden ihm im Notfall immer Rückhalt geben. Stirnrunzelnd versuchte er sich vorzustellen, was Kai gefühlt haben musste, als er als Teenager urplötzlich völlig alleine zurechtkommen musste.
Chrissie, seine Exfrau und Tochter von Fritz, hatte ihm einmal erzählt, wie der tödliche Autounfall damals abgelaufen war, von dem Kai diese feine Narbe über der linken Wange zurückbehalten hatte. Sein Vater war sofort gestorben, genauso wie der Unfallverursacher. Doch die Mutter hatte noch gelebt und Kai hatte vergeblich versucht, sie am Leben zu halten, bis Hilfe kam. Es war wirklich kein großes Wunder, dass ein sowieso schon introvertierter Junge, sich daraufhin von seiner Umwelt abschottete und zu einem nach außen hin absolut emotionslosen Menschen geworden war. Doch in Wirklichkeit konnte niemand besser Gefühle verstehen als Kai und er wusste schon lange, dass dieser Mann auch sehr wohl leiden konnte.
Patrick seufzte. Schließlich war er derjenige, der normalerweise dafür sorgte, dass Kai ungute Gedanken bekam, denn schließlich ließ er nichts unversucht, um Hetty endlich für sich zu gewinnen. Seit seiner Scheidung von Chrissie hatte er sich auch nicht mehr sonderlich Mühe gegeben, diese Tatsache und deren Konsequenzen vor seinem Rivalen zu verbergen. Und da Kai immer über alles informiert war, bekam er meistens auch mit, wenn seine Freundin sich nicht an ihre Vereinbarung hielt, dass Patrick tabu war. Da Patrick selbst hin und wieder vor lauter Eifersucht auf Kai am liebsten die Wände hochgegangen wäre, konnte er sich gut vorstellen, dass es hinter der ungerührten Miene, die sein Konkurrent zeigte, sehr wohl anders aussah. Doch momentan gab es wichtigere Dinge zu tun, als ihren ewigen Kampf um Hetty fortzuführen. Jetzt stand erst einmal die Genesung von Fritz im Vordergrund.
Hetty hatte Dolly für einen Moment alleine gelassen und war in ihre Suite gegangen, um nach Kai zu sehen. »Soll ich auch mitkommen?«
Ihr Lebensgefährte schüttelte den Kopf. »Du kannst sowieso nichts machen. Außerdem muss jemand auf Simon aufpassen, Patrick wird dazu keine Zeit haben. Bleib bitte hier auf der Farm, ich gebe dir Bescheid.«
Während er duschte, legte ihm Hetty die üblichen schwarzen Kleidungsstücke auf sein Bett und wartete dann bedrückt darauf, dass Kai wieder auftauchte. Sie wusste, wie sehr er seinen Mentor und Ziehvater liebte und hoffte von ganzem Herzen, dass Fritz diesen Infarkt überleben würde. Ganz abgesehen davon, dass er auch für sie schon lange die Vaterstelle vertrat und sie sich ein Leben ohne Fritz beim besten Willen nicht vorstellen konnte.
Als Kai aus dem Bad kam, stand sie auf und umarmte ihn. »Ich liebe dich!«
Auch wenn er in Eile war, die Zeit für einen langen ausgiebigen Kuss nahm er sich trotzdem. Dann war die Gegenwart wieder da und er griff nach seinem Hemd. »Dolly sitzt sicher schon wie auf heißen Kohlen. Wir müssen los.«
Kapitel 2
Zehn Minuten später waren sie und Patrick alleine auf der Farm. Der hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls geduscht und für das Büro angezogen. Seine Kleidung war immer noch leger, daran hatten auch die vergangenen Jahre nichts ändern können. Allerdings trug er inzwischen maßgeschneiderte Ware und sah auch ohne einem schwarzen Geschäftsanzug sehr beeindruckend aus. Nun stand er in der Bibliothek, wartete darauf, noch mit Hetty sprechen zu können und starrte aus dem Fenster. Sein Sohn Simon hatte glücklicherweise von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen und schlief, nach wie vor, ruhig und selig in seinem Bettchen. Da Kais Hubschrauber fast jeden Tag auf der Farm landete, brachte ihn ein Rotorgeräusch nicht dazu, aus seiner Traumwelt zu erwachen.
Seufzend drehte Patrick sich um, als Hetty ins Zimmer trat. »Das Schlimmste ist, dass man überhaupt nichts tun kann.«
Hetty nickte. »Ich hasse das. Aber es hilft nichts, wir müssen abwarten.«
Sie deutete nach oben. »Simon übernehme ich, da brauchst du dich nicht zu kümmern. Du wirst heute genug in der Firma zu tun haben.«
Patricks Stimme klang leicht verzweifelt. »Heute? Auch wenn Fritz sich erholt, wird in Zukunft das meiste an mir hängen bleiben. Schließlich ist er nicht mehr der Jüngste und die Folgen eines Infarkts werden ihn nicht fitter machen. Er hat sich schon die letzten Monate immer mehr aus der Geschäftsführung zurückgezogen. Was meinst du, warum ich jeden Abend so spät heimkomme?«
Hetty runzelte die Stirn. Sie hatte sich schon gewundert, warum Patrick so lange ausblieb und war der Meinung gewesen, er würde wohl wieder eines seiner eigenen Computerprogramme zum Laufen bringen, die der Firma in den letzten Jahren eine Menge Geld gespart hatten. Manchmal war ihr dabei auch der ungute Gedanke durch den Kopf geschossen, dass Patrick vielleicht auch bei einer Frau sein könnte. Schließlich war er nun seit einem halben Jahr geschieden und mit seinen siebenunddreißig Jahren in einem Alter, in dem er sicher nicht als Asket vor sich hinlebte.
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