Es ist beispielsweise sehr viel leichter durchsetzbar, die erwähnten Kontrollkabinen einzuführen, als sie wieder abzuschaffen. Selbst solche, eher als Kleinigkeiten einzustufende Erscheinungen sind dann kaum noch rückgängig zu machen. Diejenigen, welche argumentieren, dass dies doch alles nicht so schlimm ist, begreifen nicht, dass es eine kleine Zwischenstufe von vielen anderen in einem größtenteils irreversiblen Prozess ist. Für sie sind Erscheinungen wie die Unmöglichkeit der Identifizierung bei Geschwindigkeitsüberschreitungen oder beim Abholen der Kinder am Kindergarten zu vernachlässigende Tatbestände.
Ganzkörperverschleierungen könnten aber auch heute schon weit dramatischeren Charakter haben. Beispielsweise werden heute öffentliche Plätze und wichtige Einrichtungen in den meisten Metropolen und großen Städten kameraüberwacht. Diese Plätze stellen für terroristische Attentäter attraktive Ziele da. Diese wissen aber sehr genau, dass diese überwacht werden und die Überwachung bei einem Anschlag sehr wahrscheinlich zu ihrer Identifizierung führen wird. Die Möglichkeit der nachträglichen Identifizierung von Personen hat für Menschen, welche Böses im Schilde führen, ein hohes Abschreckungspotential. Der große technische Aufwand und die hohen Kosten, welche damit verbunden sind, dienen der Sicherheit der Menschen. Wird aber Ganzkörperverschleierung ein gesellschaftlich anerkanntes Phänomen, dann sind all diese Kosten und Aufwendungen umsonst getätigt worden.
Ein Attentäter könnte unter einer Burka einfach unerkannt auf einen beliebigen, kameraüberwachten Platz spazieren, eine Bombe platzieren und diesen wieder verlassen. Es gäbe keine Möglichkeit der Identifizierung. Man könnte nicht einmal feststellen, ob unter der Burka eine Frau oder ein Mann gesteckt hat. Der riesige technische Aufwand des Westens wird von ein paar Metern billigen Stoffs zunichte gemacht. Das sind Verhältnisse nach dem Geschmack der Terroristen.
Nicht wenige von diesen sind der Meinung, dass der Westen es aufgrund seiner eigenen Dummheit auch nicht anders verdient hat. Da könnte man fast versucht sein, diesen radikalisierten Personen, zumindest streckenweise, Recht zu geben.
Verdrängung in der Geschichte der Menschheit
Die beschriebenen Verdrängungsmechanismen sind allgemeingültig und gelten daher für jede Gruppierung zu jeder Zeit. Das heißt, jedes Mitglied einer Gruppierung kann gleichzeitig Minder- und Mehrheitsmitglied sein.
Hält sich beispielsweise ein Mitglied einer Mehrheit in einer Umgebung mit mehrheitlichen Mitgliedern einer Minderheit auf, so wird das Mehrheitsmitglied zur Minderheit. Territoriale Dominanz ist daher bei Verdrängungsprozessen von großer Bedeutung. Selbst große Gruppierungen wie nationale oder ethnische Gemeinschaften unterlagen immer schon diesen Prozessen. Dazu muss erwähnt werden, dass es so etwas wie Nationalgrenzen (in evolutionären Dimensionen gesehen) erst seit sehr kurzer Zeit gibt. Wenn man beispielsweise eine Karte Frankenreichs unter Karl dem Großen betrachtet, so gaukelt diese eine Homogenität vor, welche überhaupt nicht existent war. Selbst das in der Blütezeit hervorragend strukturierte Römische Reich hatte auf große Gebiete gar oft keinen direkten Zugriff. Ganze Volksstämme durchstreiften zeitweise das Territorium des römischen Reiches, ohne dass man dies verhindern konnte.
Verdrängungsprozesse liefen an den Rändern von Territorien ständig ab, da es so etwas wie klare Grenzen, beispielsweise den Limes oder chinesische Mauer, nur in Ausnahmefällen gab.
Verdrängung wird von der verdrängten Gruppierung natürlich als aggressiver Akt wahrgenommen. Wirksamer Schutz bot nur eine klare territoriale Abgrenzung in Form einer möglichst befestigten Grenze.
Warum aber gibt es Grenzen im heutigen Sinne erst seit ein paar hundert Jahren?
Zur Beantwortung dieser Frage muss erwähnt werden, dass es in vorindustriellen Zeiten einen recht linearen Zusammenhang zwischen landwirtschaftlich genutzter Fläche und Anzahl der möglichen Bewohner gab. Das heißt, dass unter Berücksichtigung von Faktoren wie Bodenqualität oder Klimabedingungen eine bestimmte Fläche nur eine bestimmte Anzahl von Menschen ernähren könnte. Umgekehrt bedeutete dies, dass man pro Mensch eine ganz bestimmte Nutzfläche benötigte.
Durch die geringe Bevölkerungsdichte in früheren Jahrtausenden war im Grunde immer genug Boden vorhanden. Näherte man sich in einem bestimmten Gebiet kritischen Schwellen (also sozusagen zu viele Menschen für ein bestimmtes Gebiet), wurde mit Abwanderung reagiert. Das funktionierte so lange, wie es Gebiete gab, in die man überhaupt abwandern konnte. Übrigens ist dies der Grund dafür, warum sich der Mensch so schnell über die Erde ausbreitete. Gruppierungen mussten auf der Suche nach Nahrung anderen Gruppierungen ausweichen. Dies erscheint zunächst unglaubwürdig, da es während der frühen Entwicklung des Homo Sapiens aufgrund der extrem geringen Bevölkerungsdichte so scheint, als ob immer genügend Land zu Verfügung gestanden hat. Dem ist aber nicht so.
Mitglieder einer Jäger-und-Sammler-Kultur haben nämlich einen bei weitem höheren Platzbedarf als Mitglieder von ackerbauenden Kulturen. Tatsächlich benötigt man für die Ernährung eines Menschen durch Jagen und Sammeln ein Vielfaches der Fläche, wie man durch landwirtschaftliche Nutzung benötigen würde. Da aber frühere menschliche Kulturen allesamt Jäger-und-Sammler waren, waren die benötigen Flächen, selbst für die verhältnismäßige geringe Anzahl an Menschen, enorm. Man kann davon ausgehen, dass die jagenden Gruppierungen schlichtweg ihrer Jagdbeute folgten.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war territoriales Ausweichen ein bevorzugter Lösungsansatz bei auftretenden Gefahren. Dies konnten zum Beispiel kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Gruppierungen oder zu geringe Jagdausbeute sein. Natürlich könnten auch ganz andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Tatsache ist aber, dass der Flächenbedarf bei den damaligen Methoden der Ernährung enorm war und dass bei Problemen vorzugsweise mit Abwanderung reagiert wurde (was bei nicht sesshaften Kulturen auch nicht weiter verwundert). Dies führte dann zu einer relativ schnellen Ausbreitung der Menschheit über den gesamten Globus.
Tatsache ist auch, dass die Bevölkerungsdichte an einem speziellen Ort aufgrund der enormen Flächenexistenz extrem gering war. Es gab es weltweit lediglich ein paar hunderttausend menschliche Individuen.
Dies änderte sich mit dem Beginn der Landwirtschaft und Viehzucht. Von da an war der Flächenbedarf für die Ernährung deutlich kleiner. Das heißt, dass Verdrängung im klassischen Sinne sowohl in den nicht-sesshaften Sammler-und Jäger Gruppierungen als auch in der Anfangsphase der sesshaft Ackerbau betreibenden Gruppierungen eher von untergeordneter Bedeutung war. Es war sozusagen immer genügend Fläche vorhanden um auszuweichen. Zunächst war es so, dass Jäger-und-Sammler Kulturen sich in den prinzipiell dünn besiedelten Gebieten eher selten mit konkurrierenden Gruppierungen auseinandersetzen mussten. Später war der Flächenbedarf durch die Einführung planvoller Landwirtschaft und durch Sesshaftigkeit deutlich geringer. Die planvolle Landwirtschaft wurde in vielen Gebieten viel später eingeführt als man im Allgemeinen glaubt. Beispielsweise gibt es so etwas wie planvolle Landwirtschaft in Skandinavien bestenfalls ein paar hundert Jahre. Möglicherweise wurden auch deshalb die asiatisch stämmigen Ur-Finnen von den europäischen „modernen“ Finnen verdrängt, weil der Flächenbedarf ohne planvolle Landwirtschaft so groß war und es daher keine Ausweichmöglichkeit gab.
Das letzte Kaninchen, das die Menschheit noch aus dem Hut zaubern konnte, war die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Einführung von Kunstdünger. Damit wurde der Flächenbedarf nochmals deutlich reduziert. Ebenso sorgte das verbesserte Transportwesen dafür, dass bestimmte Gebiete viel mehr Menschen aufnehmen konnten als sie eigentlich ernähren konnten. Beispielsweise ist England schon seit Jahrhunderten nicht mehr in der Lage, seine eigene Bevölkerung zu ernähren.
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