In dieser Nacht konnte er kaum einschlafen. Zum einen wollte er die Höhle untersuchen, die er dort oben unterhalb der Röhre vermutete. Doch das wollte er nicht alleine tun. Und zum Anderen plagte ihn sein Gewissen wegen Henry. Das Zweite wog dabei mehr als alles andere, das er sich im Zusammenhang mit der Höhle ausmalte. Er war gemein zu ihm gewesen. Hat ihn in einer Art und Weise verletzt, wie er es kaum für möglich gehalten hätte. Dieser Blick, den Henry ihm zugeworfen hatte. Obwohl es überaus warm war, fröstelte es ihn. Henry war mit Abstand Jims bester Freund, doch alles was er heute in seinen Augen gelesen hatte, war ein abgrundtiefer Hass. Dabei wollte Jim eigentlich nur Spaß machen. Er konnte ja nicht wissen, auf welche Landmiene er da treten würde. Jim beschäftigte sich noch lange mit dem Gedanken und als er dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte er nur wirres Zeug. Bettlaken, die im Sommerwind flattern, aufgehängt an einer Wäscheleine. Schatten die sich dahinter bewegen. Ein Windspiel über einer alten Tür, mit silbernen Stangen die im Wind klimpern. Eine schwarze Katze die ihn vom Dach herunter anfaucht und wieder die Bettlacken im Wind, besprengt mir Blut. Dann sah er plötzlich Henrys Vater und seine Mutter, die stöhnend unter ihm aufschrie, während er schwitzend auf ihr lag, stoßweise sein Becken bewegte und seine Hände in die Bettdecke krallte. Und dann sah er Henry, wie er hinter dem Bett stand und weinte. Wie er fassungslos das Geschehen beobachtete, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, bis er endlich unter Tränen hervorstammelte, er solle Mami nicht wehtun. Und wieder sah Jim die Bettlaken, wie sie im Wind flattern. Und als eine davon vom Wind umgeschlagen wurde, sah er Henry, der aussah wie ein Zombie und Jim mit großen Augen anstarrte, bevor er die herabhängenden Hände zu Fäusten ballte, den Mund öffnete und schrie.
Als Jim aufwachte, lag er schweißgebadet in seinem Bett und war total verstört. Ein Teil von ihm sagte sich, das es nur ein verrückter Traum gewesen war, - völlig bedeutungslos. Ein anderer, tiefer liegender Teil in ihm, erzählte ihm das Gegenteil. Er war nicht nur nahe dran, er hatte genau ins Schwarze getroffen. Wehalb sonst sollte Henry so abdrehen. Er hatte seinen wundesten Punkt entdeckt. Treffer. Versenkt. Henry. Stilles, tiefes Wasser. Ein Bettlaken im Wind. Blutrot, - und keiner wäscht es weiß.
Bereits am frühen Vormittag machte er sich auf den Weg. Er war noch nie so nervös, wie an diesem Tag, als er zu Henrys Haus lief. Er hat ja schon so manches mal etwas verbockt, doch diesmal hatte er seinen Wagen so tief in den Sand gesetzt, dass er beim besten Willen nicht wusste, wie er ihn wieder herausziehen soll. Er hatte Angst Henry zu verlieren. Bisher war es für ihn einfach immer völlig normal, das Henry für ihn da war. Wie ein Bruder. Ein Teil seiner Familie. Es wäre ihm auch nicht im Ansatz in den Sinn gekommen, dass es jemals anders sein könnte. Bis Heute. Als er an der Haustür klingelte, zitterte seine Hand. Es dauerte etwas, dann öffnete Henrys Mutter die Tür. Sie stand vor ihm, mit verschränkten Armen, wie eine ein Mann Armee. Jim schluckte. „Ist Henry da?“ „Tut mir leid“, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. „Ich fürchte, er ist für dich nicht zu sprechen.“ Jim hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand mit voller Wucht in den Magen geschlagen. Er musste tief durchatmen bevor er wieder etwas sagen konnte. „Dann, stammelte er schließlich, möchte ich ihm wenigstens etwas da lassen.“ Er gab ihr einen länglichen Karton und ohne noch etwas Weiteres zu sagen, drehte er sich um und ging. Er konnte nichts mehr sagen. Sein Hals war wie zugeschnürt und sein Herz schien zu zerspringen und schon nach wenigen Metern musste er sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, bevor er erneut tief durchatmete und in Richtung seines Hauses lief. Henry trat vom Fenster zurück und war total verwirrt. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Sicher hatte er Jim schon einmal weinen gesehen, als er noch kleiner war, doch das war vor einer halben Ewigkeit. Das er es jetzt wieder tat und offensichtlich wegen ihm, war für Henry nicht nur überraschend, es war einfach unglaublich. Und doch konnte es nicht anders sein. Aufgeregt sprang er die Treppe nach unten, um seine Mutter nach dem Paket zu fragen. „Ach das… das liegt im Flur“, sagte sie und man merkte, dass es ihr gar nicht gefiel, das Henry davon wusste. „Und wann hattest du vor es mir zu geben?“ Fragte Henry und erwartete keine Antwort. Stattdessen nahm er sich das Paket und ging damit auf sein Zimmer. Seine Aufregung steigerte sich ins unermessliche, als er es vorsichtig öffnete, und als er schließlich den Deckel abgenommen hatte, saß er einfach nur wortlos da und starrte auf den Inhalt. Es war eine USA Flagge, eine Enterprise Zeichnung und die deutsche Spiderman Erstausgabe. Zusammengenommen war es Jims wertvollster Besitz. Er schenkte ihm buchstäblich alles was er besaß.
Henry rannte nach unten, an seiner staunenden Mutter vorbei und aus dem Haus. Er fand Jim unterwegs, auf einem Stein neben der Straße sitzend. Seinen Kopf hatte er in seine verschränkten Arme vergraben. Als er jemand kommen hörte und sah, dass es Henry war, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. „Mann, das kannst du mir doch nicht schenken“, sagte Henry, kaum das er bei ihm war. „Mach ich aber“, sagte Jim. „Aber das kann ich echt nicht annehmen.“ „Na dann lass es doch“, sagte Jim, und schon wieder liefen ihm Tränen über die Wange. Er legte sein Gesicht in seine verschränkten Arme und schluchzte vor sich hin. „Muss es doch wieder gut machen…ist alles was ich habe…vielleicht finde ich ja noch was anderes…“ Die Sätze kamen so bruchstückhaft aus Jim, wie Wasser aus einem hin und her kippenden Eimer. „Mann, du verstehst aber auch alles falsch. Ich meine es ist zu wertvoll. Ich weiß doch wie sehr du daran hängst. Aber allein, dass du mir das alles schenken wolltest, zeigt mir, wie viel dir an meiner Freundschaft liegt und das bedeutet mir eine Menge. Auch wenn du manchmal eine echte Nervensäge bist. Also, hör auf das Gras zu bewässern und freu dich darüber, das wir wieder Freunde sind.“ „Echt?“ Fragte Jim überrascht und warf dabei Henry einen Blick zu, der selbst am Nordpol das Eis zum schmelzen bringen würde. So, dachte sich Henry, muss Jim mit fünf geschaut haben, als er sein erstes Spielzeug geschenkt bekam, und zwar vom Christkind höchstpersönlich, umringt von tausend Engeln. „Na was denkst du denn“, sagte Henry und musste einfach lachen. „Aber nur, wenn du nie wieder etwas dummes über meine Mutter sagst.“ „Versprochen“, sagte Jim und wischte sich seine Tränen ab. Die Art, mit der Jim ihm nur durch diese eine Geste erneut signalisierte, wie wichtig er für ihn war, ging Henry so nahe, das er eiligst beschloss das Thema zu wechseln. „Warst du eigentlich noch mal bei der Höhle?“ Fragte er, wobei ihm sofort wieder seine eigenartigen Gefühle durch den Kopf gingen, als er in das finstere Loch schaute, das in die Tiefe führte. „Nein, sagte Jim bedeutsam, das wollte ich mit dir zusammen tun.“ Henry wusste nicht warum, doch er fühlte in diesem Moment eine Zuneigung zu Jim, die tiefer ging als gewöhnliche Freundschaft. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Dorfspielplatz Türme bauten. Damals waren sie noch nicht mal in der Schule. Während Jim Schwierigkeiten hatte, etwas halbwegs Brauchbares zu formen, nahm sein Turm bereits deutliche Konturen an und als sie fertig waren, war er fast doppelt so groß wie Jims. Henry machte sich darüber lustig und meinte, das Jims Soldaten, (die sie übrigens beide deutlich vor sich sahen) ja in seinem Turm übernachten könnten, bevor ihrer über sie Nachts zusammenstürzt, und als Jim seinen mickrigen Turm betrachtete, wurde er auf einmal ganz rot im Gesicht und starrte Henry wütend an. Dann trat er mit seinem Fuß nach Henrys Turm und als er einstürzte, fing er (Henry) sofort an zu heulen. Er erinnerte sich wie ihn seine Mutter aufgeregt wegtrug und versuchte zu beruhigen, wobei sie Jim vorwurfsvoll ansah. Wie er zu ihm zurückblickte und wie Jims Augen verrieten, wie sehr es ihm leid tat, als wüsste er selbst nicht, warum er das gerade getan hat. Wie traurig ihm Jim hinterher blickte, als seine Mutter ihn zum Auto trug und wie Henry sich nur noch eines wünschte, den Turm bereits vergessend, - diese traurigen Augen wieder fröhlich zu machen.
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