Christian Moser-Sollmann
Dachbuch Verlag
1. Auflage: September 2020
Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien
ISBN 978-3-903263-17-8
EPUB ISBN 978-3-903263-18-5
Copyright © 2020 Dachbuch Verlag GmbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Christian Moser-Sollmann
Lektorat: Nikolai Uzelac
Korrektorat: Ines-Mercedes Freitag, Teresa Emich
Satz & Umschlaggestaltung: Daniel Uzelac
Umschlagmotiv: Akos Boekoe
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www.dachbuch.at
1 Alles, was gut aussieht, ist für die Galerie
2 Warten auf den Bus
3 Kein normaler Tiroler geht zum Zivildienst
4 Jung, hungrig und pleite oder warum Franz Innerhofer auf meine Leseliste gehört
5 Die Perle Kärntens
6 Murder Inc. forever
7 Bin ich Anne Frank oder möglicherweise gar ein entlaufener Sklave?
8 Quellenkunde
9 I am higher than the sun
10 Du bist das Land, dem ich die Treue halte
11 Tagwache
12 Disziplin ist alles
13 Lehrjahre sind keine Herrenjahre, Raggler!
14 Bart Simpsons Silvesterstreich
15 Bruce Lee fährt auch Ski
16 Weil du so schön bist, mein Tiroler Herz
17 Endstation Sainihåns
18 The Nobel Savage Caro (Call me)
19 Out of Order
Der Text ist meine Party
und mein Bild ist kein Messer
Kolossale Jugend
Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ist‘s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück suchen.
Joseph von Eichendorff
1
Alles, was gut aussieht, ist für die Galerie
Eine Faust, hart wie eine gefrorene Kartoffel, fliegt auf meine Nase zu. »Der Romed blutet! Der Romed blutet!«, schreit das einzige Mädchen unserer Taekwondo-Gruppe. Ich spüre, wie mir warmes Blut von der Lippe langsam übers Kinn rinnt. Ich liege am Boden des Turnsaals und habe gerade meinen ersten Vollkontaktkampf durch ein Knockout verloren. Verheerend für meine weitere Laufbahn als Kampfsportler! Ich war mir sicher, zu gewinnen, aber der Kollege hat eine kurze Unaufmerksamkeit beinhart ausgenützt. Ich wollte vor meinen Sportkameraden glänzen und habe meinen Gegner mit einem Luftsprung attackiert. Aber alles, was gut aussieht, ist für die Galerie und nicht effizient. Er ist ausgewichen und als ich gelandet bin, habe ich für eine Nanosekunde das Gleichgewicht verloren. Ich habe meine Deckung vernachlässigt und er hat einen kompakten Schlag in meinem Gesicht geparkt. Mit voller Wucht, ohne abzustoppen, wie wir es gelernt hatten. Ich habe ihn richtiggehend eingeladen, mich zu vernichten und kann jetzt nicht mal mehr aufstehen. Und das Beschämendste ist – der Kampf hat keine zwanzig Sekunden gedauert. So schnell zerstört sonst nur Bruce Lee seine Gegner.
Ich ignoriere die hämischen Kommentare meiner Trainingspartner und schließe die Augen, um nicht von ihren abfälligen Blicken durchbohrt zu werden. Trotzdem höre ich sie: »Voll der Anfängerfehler. Wer wie ein junger Hund losstürmt und dabei seine Deckung vergisst, verdient eine blutige Lippe.«
Mir ist schwindlig und ich übergebe mich. Meine Knie zittern wie bei einem Föhnsturm. Erst nach zwanzig Minuten Erholungspause kann ich wieder richtig stehen. Das Bluten hat aufgehört, ich muss nicht ins Krankenhaus, doch meine Lippe ist auf das Dreifache angeschwollen. Ein bisschen sehe ich jetzt aus wie Mick Jagger.
»Kühl das daheim mit Eis und geh‘ schlafen. Ab morgen trainierst du dann dreimal so hart.« Mein Trainer tröstet mich mit ein paar Weisheiten aus seinem Motivationshandbuch: »Erst durch Niederlagen wird man besser. Weißt du, dass auch Bruce Lee seine ersten zwei Kämpfe verloren hat? Ab sofort machst du jeden Tag nach dem Aufstehen hundert Liegestütze.«
Alles in allem war er zufrieden, weil ich nicht geweint habe. Ich muss noch viel härter trainieren, meinem Gegner immer in die Augen schauen und darf niemals, absolut niemals meine Deckung vernachlässigen.
Am nächsten Tag in der Schule habe ich noch immer rasende Kopfschmerzen und sehe erbärmlich aus mit meiner Schlauchbootlippe. Natürlich kommentiert meine Lieblingsmitschülerin Babsi das hämisch:
»Hey, Karate Kid! Bist in deinem Dorf gegen eine Stalltür gerannt oder hat dich ein Pferd getreten?«
Um von meiner Schmach abzulenken, muss mir dringend was einfallen.
»Ach, vergiss‘ meine Lippe. Ich hab‘ heute Nachmittag frei und du nicht. Mein Großonkel ist gestorben und ich muss zum Begräbnis. Das ist so lässig.«
»Mensch, Romed, bist du nicht traurig?«
Babsi blickt bemüht entrüstet.
»Wieso denn? War nur einer meiner hunderttausend Onkels. Ich habe eine Riesenverwandtschaft. Ich habe ihn nicht mal gekannt. Der Mann war 95. Er ist nun sicher erlöst«, sage ich und lächle Babsi entschuldigend an. Sie hätte auch gerne frei.
Babsi ist eine noch größere Minderleisterin als ich. Wir fiebern beide unserer Matura entgegen. Sie steht auf acht »Genügend«. Sie ist nicht blöd, nur faul. Seit der dritten Klasse sitze ich in der ersten Reihe rechts, direkt vor Babsi. Viele Taugenichtse denken fälschlicherweise, vorne rechts zu sitzen wäre blöd, weil man dann im Blickfeld des Lehrers ist. Doch das stimmt nur teilweise. Mein Klassenvorstand Ratzinger hat mich vor drei Jahren wegen meiner ausufernden Schwätzereien auf diesen Platz strafversetzt. Allmählich lerne ich seine pädagogisch gut gemeinte Maßnahme zu schätzen; ganz vorn kann ich ungestört schwindeln, wobei mich die Lehrer in Ruhe lassen, weil sie die Spitzbuben in den hinteren Reihen vermuten.
Eine Stunde muss ich noch schwätzen, dann kann ich mich endlich niederlegen. Philosophielehrer Mayerhofer betritt die Klasse. Mit seinem Mittelscheitel, dem braunen Cordsakko und der randlosen Brille wirkt er verständnisvoll. Er schreibt mit seiner Babyschrift sein Anwesenheitszeichen in das Klassenbuch; es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich einer meiner Klassenkameraden aufrafft, um mit einer idiotischen Scheinfrage den Unterrichtsbeginn hinauszuzögern. Mayerhofer ist ein Lehrer ohne Autorität. Das weiß er selbst am besten, weshalb er sich möglichst lange ans Klassenbuch klammert.
»Romed, was ist denn mit deiner Lippe passiert? Egal, ich habe schon länger nicht mehr geprüft. Du interessierst dich doch für Philosophie, also beginnen wir gleich mit dir.«
Ich habe weder gelernt noch bin ich geistig bereit für eine Prüfung.
»Bitte heute nicht, ich hab‘ nicht geschlafen, weil ich solche Zukunftsängste wegen des sauren Regens habe.«
Mayerhofer lacht und antwortet: »Romed, diese Geschichte hast du mir schon vor zwei Wochen erzählt. Der Regen wird Osttirol schon nicht zerstören. Komm, hab‘ dich nicht so.«
Dann brauche ich eben stärkere Argumente als Umweltschutz, die Bewahrung der Schöpfung und meine schmerzende Lippe: »Das geht heute leider wirklich nicht, Herr Professor, dass sie mich prüfen, leider. Mein geliebter Großonkel ist völlig unerwartet verstorben. In zwei Stunden ist Begräbnis und ich bin voll in Trauer.«
Mayerhofer schaut betroffen. Ein Todesfall kommt ihm ungelegen. Er druckst herum:
»Mein aufrichtiges Beileid. Ein Todesfall in der Familie nimmt einen immer mit. Dann prüfen wir eben…«, Mayerhofer blickt kurz hoch, »… die Barbara.«
»Geh bitte, Herr Professor, muss das sein? Dem Romed geht es schon wieder viel besser. Der hat seine Trauerphase bereits überwunden. Schauen Sie ihn sich ruhig an. Er ist das blühende Leben trotz seiner geschwollenen Lippe.« Doch alles Jammern nützt nichts, Babsi wird geprüft. Neben ihr sitzt Johanna, schwarzhaarig und sehr hübsch, nur leider stumm. Sie geht ausschließlich mit älteren Jungs aus, die wie Italiener aussehen, mit Gleichaltrigen wie mir gibt sie sich nicht ab. Ich habe das verstanden, mein Banknachbar nicht. Der hat sich in sie verliebt und sich einen fürchterlichen Korb abgeholt. Kein Wunder, Jürgen ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Weil ich seine Erzählungen von der Feuerwehr alle kenne und er abseits dieses Vereins kein Leben hat, rede ich so gut wie nie mit ihm. Seit ich mich erinnern kann, bekommt Babsi ein »Wenig Zufriedenstellend« in Betragen. Manche Lehrer fürchten sich richtig vor ihr. Auch die anderen Buben lassen sie in Ruhe, jeder hütet sich vor ihrer scharfen Zunge. Mich stänkert sie nie an, außer, wenn ich gerade eine geschwollen Lippe habe.
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