Noch trauriger als mein ereignisarmer Schulalltag und mein Dasein als Jungmann ist mein Wohnort. Ich wohne nicht mal in der Bezirksstadt, nein, ich wohne in einem vier Kilometer entfernten und auf tausend Meter Seehöhe gelegenen, kaum erschlossenen Bergdorf namens Oberdrum in einem kleinen, von meinem Vater selbst erbauten Einfamilienhaus, umgeben von Misthaufen und arbeitsamen Bauern. Täglich pendle ich mit dem Schulbus, um die vierhundert Meter Höhenunterschied zu überwinden. Drei Stunden Fußmarsch sind mir zu anstrengend, obwohl das für meine Ausdauer beim Kämpfen gut wäre. Wegen dieser Distanz ist den Kindern aus unserem Dorf der Besuch höherer Schulen übrigens lange verwehrt geblieben.
Busfahrten sind die einzige Fluchtmöglichkeit aus meinem 350-Seelen-Dorf, wo es mehr Kühe als Frauen gibt. Drei meiner fünf Nachbarn sind Landwirte, der vierte ist einer meiner vielen Onkels, der fünfte ist mein Opa und der Rest unserer Dorfgemeinschaft setzt sich folgendermaßen zusammen: Vierzehn Vollerwerbsbauern, zwanzig Nebenerwerbsbauern, ein paar Dutzend Einfamilienhäuser - welche die Zweit-, Dritt- und Viertgeborenen der jeweiligen Bauerndynastie auf den Grundstücken erbauten, die ihnen der Altbauer nach alter, nie hinterfragter Tiroler Tradition zuteilte - und ein paar zugezogene deutsche Pensionisten, die in der Abgeschiedenheit dieses, vom Massentourismus verschont gebliebenen, Herrgottswinkels ihren dritten Lebensabschnitt mit Gartenarbeiten, Spaziergängen und Bergsteigen verbringen. Bis auf meine Cousinen gibt es bei uns im Dorf keine feschen Mädchen. Die Väter meiner Volksschulfreunde reden lieber mit ihren Rindern und Schafen als mit ihren Frauen.
Mit zehn besuchte ich entgegen dem ausdrücklichen Rat meines Volksschullehrers das neusprachliche Gymnasium. Weniger aus einem ungebührlich großen Wissensdrang heraus; ich wollte endlich in Kontakt mit Stadtmenschen treten. Wäre ich in die Hauptschule gegangen, hätte ich nämlich weiterhin mit den Dorfkindern meine Zeit verbringen müssen. Das wollte ich vermeiden, obwohl meine Freunde schwer in Ordnung sind und ich meine Kindheit genossen habe: Heuhüpfen in den Silos der Bauern, ministrieren und vorbeten, Obst stehlen sowie abwechselnd schlägern und Fußball spielen mit den gezählt dreizehn gleichaltrigen Burschen meines Dorfes. Massenschlägereien bildeten den Höhepunkt meiner Kindheit. Wir Oberdrumer raufen gerne und sind in ganz Osttirol berüchtigt für unsere unbändige Kraft. Wir sind waschechte Tiroler: stolz, treu und ein bisschen geistig unterbelichtet. Die Bewohner der umliegenden Gemeinden nennen uns »Oberdrumer Wölfe«. Wir prügeln uns mit allen und gerne auch grundlos. Einmal verteidigen wir die Ehre unserer Elternhäuser, dann müssen wir unsere Siedlung gegen umherschweifende Eindringlinge aus anderen Dorfteilen behaupten. Wenn meine Nase blutet, fühle ich mich erhaben.
Nur noch ein paar Monate, dann sehe ich diese verschneite Landschaft nie wieder. Den Schnee und die Berge werde ich vermissen. Mein Drang, wegzugehen ist aber stärker. Ich weiß gar nicht, ob ich Tirol hasse. Ich liebe mein Dorf, die Berge und meine Freunde. Auch meine Schulzeit verläuft eigentlich prima. Meinen Geschichtslehrer Wassermann verehre ich sogar.
Als Kärntner lästert er gerne über den Tiroler Freiheitskampf von 1809. Er behauptet, Andreas Hofer war ein bigotter Frömmler und geldgieriger Weinbauer, der nur in Ruhe den Franzosen Wein verkaufen wollte. Mit heimatkritischen Aussagen wie dieser hat er mich für die Methoden der mündlichen Geschichtsschreibung sensibilisiert. Ein weiterer Verdienst Wassermanns ist es, mich zu politisieren. Er borgt mir in unregelmäßigen Abständen anarchistische Klassiker aus seiner erstklassig sortierten Privatbibliothek. »Auf die Bäume, ihr Affen«, eine Streitschrift gegen Noten- und Leistungszwang hat mich besonders überzeugt. Ich liebe die abgegriffenen Wälzer meines Lehrers. Von ihm und seinen Büchern fühle ich mich verstanden. Die anderen Lehrer vertreten einen komischen Bildungsbegriff: Wir Schüler sollen nicht nachfragen. Wassermann sagt, mit der Schule wollen die Politiker nur die soziale Reproduktion der Stände erreichen und nicht die Mündigkeit des Einzelnen. Seine Theorie habe ich nicht ganz verstanden, also hat er sie mir mit folgenden Worten erklärt: »Die oben sind, wollen oben bleiben, die unten sind, sollen unten bleiben. Du als Dorfkind sollst dein ganzes Leben lang unten bleiben. Wer denkt, ist verdächtig.«
Unsere Schule hat trotz Wassermanns Kritik auch Vorteile. Übertriebener Lerneifer ist nicht notwendig. Egal, wie wenig ich auch lerne, ich habe es bislang nicht geschafft, sitzen zu blieben. Nur zehn Jahre früher hätte ich als Landkind kein Gymnasium besuchen dürfen, denn Dorfkinder hat der Lehrer alle automatisch in die Hauptschule geschickt, außer wenn sie Pfarrer werden wollten. Erst Bruno Kreisky schaffte die bis in die 1970er-Jahre verpflichtende Aufnahmeprüfung ab und hat damit die Anforderungen ins Bodenlose gesenkt. In seiner Güte war dem Mann auch egal, mit welchen Noten man maturierte – Hauptsache positiv. Warum soll ich mich also anstrengen? Mein Ehrgeiz beschränkt sich auf die gekonnte Vermeidung von Nachprüfungen. Ich will mit möglichst vielen Vierern durchkommen, darin sehe ich das Vermächtnis Kreiskys am besten gewürdigt. In Österreich darf sowieso jeder Idiot studieren. Ich habe mir sogar schon ausgerechnet, wieviel Studienbeihilfe ich bekommen werde. Mein Leben ist für die nächsten Jahre ausfinanziert, obwohl mir meine Eltern eigentlich gar kein Studium finanzieren könnten. Ich liebe Österreich.
Ich bin gut integriert in die Klassengemeinschaft, obwohl mir der Einstieg als Dorfdepp nicht leicht fiel. Seit drei Jahren bin ich Klassensprecher. Die Wahl verlief eigenartig: Die weiblichen Mitschülerinnen wählten mich einstimmig, aber nur knapp die Hälfte der Buben. Ich vertrage mich einfach besser mit den Mädchen und dennoch hab‘ ich noch mit keinem geschlafen. Vielleicht bin ich zu nett…
Als ich unsere Haustüre aufsperre, ist das Kopfweh weg und meine Eltern noch beim Begräbnis. Ich bin schmerzfrei und kann deshalb zur Taekwondostunde. Weil nach sechs kein Bus mehr nach Oberdrum fährt, düse ich mit 20 km/h mit meinem Mofa los. Anders komme ich im Winter nicht zum Kampfsport. Meine Eltern spielen für mich nicht Privattaxi. Um mir mein Mofa zu finanzieren, arbeitete ich schon mit vierzehn illegal auf einer Tankstelle. Von meinem Fünf-Euro-Stundenlohn habe ich mir schließlich ein gebrauchtes Mofa um 250 Euro gekauft. Es ist ein hässlicher, weiß-orangefarbener Klotz. Da Radfahren von Lienz in unser Bergdorf mit seiner achtzehnprozentigen Steigung verbunden ist, ist es so kräftesparender. Ich lasse selbst an den kältesten Wintertagen nie eine Einheit ausfallen. Wenn ich bei minus 14 Grad mit dem Mofa fahre, frieren mir fast die Knie ab. Meine Mama hat mir deshalb eigens Knieschoner gestrickt.
Das Training ist höllisch anstrengend. Ich darf am Tag vorher nichts trinken, sonst halte ich mit den Kollegen nicht mit. Bechere ich Bier, schaffe ich nicht mal vierzig Liegestütze zum Aufwärmen. Mein Trainer lacht mich dann aus und nennt mich »Mädchen«. Fortschritte beim Taekwondo sind mir wichtiger als Bier. Wir beginnen das Training mit Dehnen. Mein großes Ziel bleibt der Herrenspagat, worauf mir nur noch fünf Zentimeter fehlen. Nach dem Aufwärmen geht es weiter mit Schattenboxen und Formen, wo man die Abläufe diverser Schlagkombinationen übt. Mit jedem Hyong werden die Schlagkombinationen technisch anspruchsvoller. Formenüben ist wie Beten - je mehr man übt, desto besser wird man. Weil ich schon sechs beherrsche, einen Bruchtest sowie drei Sparrings erfolgreich gemeistert habe und nur gestern unglücklich meinen Kampf verloren habe, bin ich stolzer Träger des blauen Gürtels. Als ich mein erstes Brett zertrümmert habe, war ich richtig glücklich. Wenn man schnell schlägt, ist so ein Bruchtest aber einfach, muss ich zugeben. Schnelligkeit ist wichtiger als rohe Kraft. Nach den Formen üben wir Freikampf mit Körperkontakt. Die meisten Taekwondo-Techniken bestehen aus Fußtritten. Ich würde eigentlich lieber einen Kampfstil erlernen, der mehr mit den Händen arbeitet; aber Boxen erlauben mir meine Eltern nicht und Kung-Fu-Schule gibt es bei uns keine.
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