»Alt Lienz«, »Hoppla« und der »Club K2« sind unser Bermudadreieck beim Weggehen. Breiti ist unser Anführer. Er hat angefangen, sich schwarz anzuziehen. Sid hat nachgezogen und ich habe es ihnen nachgemacht. Damit haben wir eine Lawine losgetreten. Mittlerweile laufen in Lienz sicher zehn bis fünfzehn Leute so herum wie wir. Nicht allen Jugendlichen gefällt das. Es kommt vor, dass uns irgendwelche Deppen anstänkern, nur weil wir anders aussehen. Doch im Club K2 ist alles friedlich. Neben uns besuchen den Club nur Lehrlinge, Arbeiter, Arbeitslose und vier hauptberufliche, jeweils zwei Meter große Bundesheerangestellte. Die Militärfraktion findet Sids vorlaute Schnauze lustig; seitdem darf uns niemand mehr blöd anquatschen, weil sie unsere persönlichen Personenschützer sind.
Sid, Breiti und ich spielen Außenseiter. Jung, dumm und pleite zu sein, ist unsere Bestimmung. Ich bin ein Landkind, das in einem verschlafenen Paradies lebt, wo nie etwas los ist, aber im Vergleich mit meinen Freunden bin ich ein Glückspilz. Breitis Vater starb vor Kurzem an Lungenkrebs. Breiti spricht nie darüber. Wenn ich ihn von zu Hause abhole, sehe ich immer das Bild, wo sein Vater drauf ist und Breiti als Zehnjähriger danebensteht. Breiti lächelt auf diesem Foto so sanftmütig. So glücklich habe ich ihn noch nie erlebt; auch nicht, wenn er besoffen ist. Ich würde gerne mehr von seinem Vater erfahren, traue mich aber nicht, nachzufragen. Das ist ihm bestimmt zu persönlich. Am Samstagabend an der Bar Gespräche über den Tod zu führen, ist sowieso verkehrt. Wenn er mir etwas von seinen Gefühlen erzählen will, wird er das schon tun. Durch den Todesfall wirkt Breiti irgendwie erwachsener als ich.
Auch Sids Mama ist schon tot. Ich habe ihren qualvollen Tod mitverfolgt. Sie hatte Multiple Sklerose, saß in einem Rollstuhl und konnte sich nicht mehr mit der Außenwelt verständigen. Sie saß leblos im Wohnzimmer herum, wenn ich Sid besuchte. Sie lebte schon in einer Zwischenwelt. Sid hat eine gewöhnungsbedürftige Art, seinen Schmerz zu verarbeiten: Er stänkert und schreit Leute an, allen voran seinen Vater. Ich kann ihn gut verstehen. Ihre Wohnung machte einen verwunschenen Eindruck auf mich; eine todkranke Frau und zwei Männer, ein Ehemann und ein Sohn, die mit dem langsamen Sterben überfordert waren und ihren Schmerz mit gegenseitiger Ablehnung kaschierten. Dieser Vernichtungswille, den Sid seither kultiviert, beeindruckt mich. Wenn er mich verarscht, ist er nie bösartig, eher wie ein kleiner Junge, der um Aufmerksamkeit buhlt. Mir kann er nichts vormachen: Hinter seiner zynischen Fassade steckt ein stummer Schrei nach seiner Mama. Sid beeindruckt es hingegen, wenn er Witze über mein Dorf macht und ich ihn ignoriere. Ich glaube, er denkt oft, dass er ganz alleine auf der Welt ist. Dabei mögen wir ihn und halten zu ihm. Ich selbst habe keinerlei Grund, mich zu beschweren. Sicher, ich wohne ich in einem Bergdorf, aber meine Eltern und meine Schwester sind pumperlgesund. Papa ist erst siebenundvierzig Jahre alt und beim Armdrücken habe ich nicht die geringste Chance gegen ihn.
Wenn wir an der Bar stehen und ich den Jungs zuproste und sie mir, wundere ich mich, warum ich dennoch ihren Weltschmerz teile. Warum sind wir Seelenverwandte, obwohl ich nichts Schreckliches erlebt habe? Meine einzigen Sorgen sind meine nahende Matura, ein guter Kämpfer zu werden, und wie ich möglichst bald entjungfert werde. Meine Kumpels ziehen mich nie wegen meines kleinen Geheimnisses auf. Der einzige, der mich unter Druck setzt, bin ich selbst. Sonja bestellt uns noch ein Bier, als mich Breiti aus meinen Gedanken reißt:
»Ich wohn‘ nicht mehr im Heim. Ich bin rausgeworfen worden. Mein Heimleiter ist zu mir gekommen und hat gesagt, das war’s für uns. Er hat die ständige Sauferei auf den Zimmern satt. Er muss andauernd leere Flaschen und Kisten wegräumen. Mein Zimmernachbar hat eh mit ihm diskutiert, um Verständnis für uns Jugendliche gebeten und auf die Tränendrüse gedrückt, aber es war nichts zu machen. Eigentlich ist das Ganze eh ein Glücksfall, Romed. Ich wohne jetzt in meinen eigenen vier Wänden, zusammen mit einem Mitschüler. Komm‘ mich doch mit Sid mal besuchen. Dann feiern wir Frühlingsbeginn am Drauufer.«
Ein herausragender Plan. Ich werde mir neue Platten kaufen, in Lienz herrscht gerade ein Versorgungsengpass. Der Verkäufer hasst mich, weil er die Tonträger, die ich bestellen will, nie in seinem Bestellkatalog findet. Ich frage Sonja, ob sie auch nach Villach mitfährt. Sie darf leider nicht, weil sie für eine Schularbeit lernen muss. Ihr Fleiß bringt mich kurz zum Nachdenken. Ich sollte selber ernsthafter lernen, doch dieser Trinkurlaub lockt mich mehr. Ich habe noch nie allein außerhalb Osttirols übernachtet. Wenn ich meine Eltern zu diesem Abstecher überreden kann, wiegt das ein schlechteres Maturazeugnis locker auf.
Ich begleite Sonja heim, um noch ein bisschen mit ihr zu knutschen. Ich bin schon ein richtiger Küsserkönig, so nennt mich jedenfalls einer der Militärfreaks halb spöttisch, halb anerkennend. Vor lauter Küssen übersehe ich die Zeit. Die eineinhalb Kilometer bis zum Stadtrand muss ich also rennen. Mein Mofa braucht bei den kalten Wintertemperaturen einiges an gutem Zureden, bis es anspringt. Eine Verspätung kann ich mir nicht leisten, da akzeptiert mein Papa keinen Verhandlungsspielraum. Als ich zu Hause ankomme, schlafen meine Eltern schon, ich sehe keine Lichter mehr und schleiche möglichst leise ins Jugendzimmer. Mein Zimmer ist das Beste an unserem Haus! Letztes Jahr habe ich mein Kinderzimmer geräumt und stattdessen mein Jugendzimmer im ebenerdigen Kellerzubau bezogen. Das ist ein kleiner Zubau – ein in die steil ansteigende Wiese eingefügter Betonblock – neben dem Haus, wo ich meine Ruhe habe.
Ich habe nur zwei kleine Bier getrunken, verkatert zu sein, kann ich mir im Moment nicht leisten. Ich muss den ganzen Sonntag Lateinvokabeln lernen. Bei der Matura darf ich zwar ein Wörterbuch verwenden, Professor Stolz hat mir dennoch dringend angeraten, meinen erbärmlich kleinen Grundwortschatz auszubauen. Die Sonntage mit Lernen zu verplempern, muss ich noch bis zur Matura durchhalten. Mit meinem Deutschlehrer Ratzinger, bei dem ich auch in Geografie maturiere, habe ich mich bereits auf eine Literaturliste geeinigt. Bei seinen Lektürevorlieben ist er wertkonservativ und beharrt auf Mindeststandards. Ein kluger Mann. »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« hat er nicht akzeptiert, weil er diese Elendsreportage nicht als Literatur durchgehen lässt. Auch Franz Innerhofer wollte er anfänglich nicht akzeptieren. Thomas Bernhard mag er ebenso wenig, weil dieser schlecht über Salzburg – Ratzingers Geburtsort – geschrieben hat. Wenn es nach Ratzinger ginge, müsste ich nur viel Nikolaus Lenau, Franz Werfel, Lessing und Fontane lesen. Auch die Franzosen wie Diderot, Stendhal und Flaubert preist er mir mit flammendem Herzen an. Mit etwas Flehen und Betteln konnte ich ihm den Franz-Innerhofer-Schwerpunkt doch noch einreden. Ratzinger war aber bald versöhnt und ein wenig positiv überrascht, ja mir schien sogar, er war verwundert, als ich ihm Heinrich Heines »Reisebilder« vorgeschlagen habe. Dass ich eine solche Geistesgröße kenne, hätte er mir nicht zugetraut. Dabei habe ich ihm immer ganz genau zugehört, wenn es spannend war. Wenn ich Spötteleien über Tirol finde, kann ich nicht widerstehen. Heine hat die Tiroler Seele böse, aber nicht ganz unzutreffend beschrieben, als er ihr eine unergründliche Geistesbeschränktheit zugeschrieben hat.
Wenn ich lese, was Innerhofer am Bauernhof so alles erlebt hat, spüre ich deutliche Parallelen zu unserem Dorfleben. Die meisten Landwirte sind lieb zu uns Kindern. Nur im verwunschenen Ortsteil spielen sich Szenen wie beim Innerhofer ab. Aber ich bin eindeutig kein Opfer, nur Beobachter. Es ist deprimierend, wie sehr die Schicksale Innerhofers jenen unserer benachteiligten Dorfbewohner ähneln.
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