Hetty verzog den Mund. Woher hätten sie auch wissen sollen, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sogar Kai war nicht auf diese Idee gekommen, ganz abgesehen davon, dass er keine Ahnung davon hatte, dass ihre damalige Mitfahrerin nicht Britney, sondern Conny hieß. Denn das hatte sie selbst erst in dem Moment erfahren, als diese eine Kugel auf sie abfeuerte, um sie zu töten.
Ihr Mund verzog sich zu einem sarkastischen Grinsen. Da hatte das Schicksal wieder mal kräftig am Rad gedreht und statt der miesen Erpresserin, die sich mit ihrer Identität ein neues Leben gönnen wollte, hatte es diese kurz darauf selbst erwischt. C‘est la vie. Wie hatte Britney, oder richtiger Conny, als letztes gesagt: „Einmal trifft es jeden“. Na ja, der Schuss war im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgegangen. Jetzt war sie mausetot und ihre Asche in alle Winde verstreut.
»Besser gesagt bei Steven und Kim im Garten!« Die Partei, die in ihrem äußerst konträr bestückten Gehirn für die spitzen Bemerkungen zuständig war, bog sich vor Lachen, bei der Erinnerung daran, wie ihre Freunde aus Alice ihr von der misslungenen Beerdigungsfeier berichtet hatten.
Glücklicherweise war gerade in dem Moment, als die Urne vom Sockel gefallen war und die Asche sich mit dem umliegenden Sandboden zu einer Masse vereint hatte, die Meldung gekommen, dass die von Kai hinter dem Rücken der Behörden veranlasste DNS-Analyse, keinen Treffer ergeben hatte. Hetty schmunzelte in sich hinein. Schade, dass kein Film gedreht worden war, bei YouTube hätten sie damit ein Vermögen verdient.
»Die Szene, als du vom Schimmel abgeworfen wurdest, hätte noch mehr Geld gebracht!«
Tja, da musste sie ihrer Sarkasmusabteilung vollkommen recht geben. Wenn jemals ein Auftritt wirklich voll in die Hose gegangen war, dann ihre Ankunft bei Kai, auf der Farm seiner verstorbenen Eltern. Zwangsgedrungen mit einem alten weißen Schimmel unterwegs, da ein überflutetes Flussbett eine Weiterfahrt mit dem Auto verhindert hatte, war sie erst noch der Meinung gewesen, das wäre ein tolles Omen: Sie, die Prinzessin, die zum Prinzen eilte, um ihn zu freien. Zugegebenermaßen schwärmte sie für gute Geschichten und vor allem für Märchen. Und sie deklamierte für ihr Leben gern.
Das hatte dem Schimmel allerdings nicht gefallen und die Folge davon war ein bühnenreifer Salto gewesen, der sie Kai vor die Füße geworfen hatte. Zumindest einen Erfolg hatte das Ganze gehabt: Kai hatte sich vor Lachen gekringelt und noch heute brachte ihn die Erinnerung an den Vorfall zum Lächeln.
Kai hatte noch am selben Abend bei George angerufen und ihm gesagt, dass sie wieder da war. Gesund und heil. Dann hatte er eine Weile warten müssen, bis er weiterreden konnte. Denn sein bester Mitarbeiter hatte zwar eine Statur wie ein Kleiderschrank auf zwei Beinen, aber gleichzeitig ein sehr empfindsames Herz. Und ganz abgesehen davon, dass Hetty eine Freundin seiner Frau Molly war, hatte er selbst sie schon seit ihrer ersten Begegnung in sein Herz geschlossen. Als die Meldung kam, dass sie tot sein sollte, hatte ihn das tief getroffen.
Jetzt kriegte er sich vor lauter Freude nicht mehr ein und brauchte eine Weile, um sich die restlichen Informationen von Kai geben zu lassen. Sofort danach griff er zum Telefon, um Molly die erlösende Nachricht mitzuteilen. Den Rest des Tages verbrachte er dann damit, der Reihe nach sämtliche Mitarbeiter von Kai zu informieren und mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, den verschiedenen Jubelschreien zu zuhören.
Als Hetty und Kai dann zwei Tage später in die Firma kamen, hatte er eine große Willkommensparty organisiert, an der sämtliche Mitarbeiter von Kai teilnahmen.
Der hob kurz die Augenbrauen und runzelte die Stirn. Wer machte momentan die Arbeit? Seine Sicherheitsfirma mit angegliederter Detektei hatte schließlich Aufträge in ganz Australien und keine festen Arbeitszeiten.
George, der seinen Blick bemerkte, nahm ihn zur Seite. »Momentan steht nichts Besonderes an und ich habe die Zeit so gelegt, dass die meisten gerade keinen Einsatz haben. Für die anderen habe ich mir ein paar Ersatzkräfte besorgt.«
Kai wusste, dass George, genauso wie er, einige Beziehungen zur Polizei hatte und vermutete, dass er es irgendwie geschafft hatte, dass ein paar Leute von dort kurzfristig aushalfen. Und da George sich in den letzten Monaten als seine rechte Hand bewährt hatte, ließ er es damit gut sein. Als er die eigenständig getroffene Entscheidung von George mit einem kurzen Nicken für in Ordnung befand, stellte der wieder einmal fest, dass er wohl den besten Chef hatte, den man in ganz Australien finden konnte.
Inzwischen war wieder das normale Alltagsleben eingekehrt und das bestand neben den Einsätzen eben vor allem aus einem ausgiebigen Fitness- und Kampftraining. Und für diesen Bedarf war das große Firmengelände im Außenbezirk von Brisbane bestens eingerichtet. Neben einigen Geländestrecken, die an die Ausbildungszentren von Militärfilmen erinnerten, einem Übungsplatz für Paintball-Waffen und einer klimatisierten Schießhalle, gab es eine große Trainingshalle, die neben den üblichen Geräten auch noch eine Kletterwand besaß, welche allerdings von den meisten Mitarbeitern mehr gehasst, denn geliebt wurde. Muskelbepackte Kleiderschränke waren eben nur bedingt dazu geeignet, sich elegant und gelenkig an einer steilen Wand hochzubewegen. Zu der Anlage gehörten auch noch die Garagen für die Firmenwägen, der Landeplatz für Kais Hubschrauber und ein modernes Bürogebäude, in dem ihr Lebensgefährte seine Zentrale eingerichtet hatte.
Hetty hatte bereits bei ihrer ersten Besichtigung vor fast zwei Jahren, anerkennend zu Kai gesagt, dass sich viele Polizeiausbildungsstellen in Deutschland solch eine Einrichtung wünschen würden. Damals hatte sie allerdings nicht in ihren kühnsten Träumen daran gedacht, dass sie hier eines Tages als Freundin des Chefs tagtäglich ein- und ausgehen würde.
Hetty beendete ihre gedankliche Erinnerungsreise und kehrte in die Jetztzeit zurück. Sie musterte die Männer, die aufmerksam den Anweisungen zuhörten und zuckte mit den Schultern. Es machte keinen Sinn hier noch lange rumzustehen und von der Vergangenheit zu träumen. Der Schweiß, der ihr immer noch auf der Stirn stand, gab einen deutlichen Hinweis darauf, was eine bessere Alternative war.
Sie nickte Kai zu. »Ich gehe duschen.«
Obwohl in seiner Sicherheitsfirma nicht viele Frauen beschäftigt waren, so hatte Kai dennoch auch für diese einen großzügig ausgestatteten Dusch- und Umkleidebereich eingerichtet. Dort konnte sie sich jetzt vor dem Heimfahren noch etwas restaurieren und vor allem überprüfen, was sein Schlag auf ihrem Körper angerichtet hatte. Mit einem Ächzen zog sich Hetty das T-Shirt über den Kopf und kontrollierte vor dem Spiegel, ob sich schon ein blauer Fleck auf ihren Rippen abzeichnete. Denn diese Aktion würde ihr mit Sicherheit einen ausgewachsenen Bluterguss einbringen und sie noch einige Zeit an ihren Fehler in der Verteidigungshaltung erinnern.
»Tja, selber schuld, du willst ja unbedingt mitmachen!«
Da musste sie ihrem Verstand recht geben. Sie hatte noch vor ihrem Verschwinden vereinbart, dass sie Kai nicht nur bei den Akquiseaufgaben helfen würde, sondern eben auch hin und wieder bei kleineren Aufträgen seiner Firma eingesetzt werden wollte. Da die auch mal aus dem Ruder laufen und gefährlich werden konnten, war es selbstverständlich von Vorteil, über eine gewisse körperliche Grundkonstitution zu verfügen, um sich im Falle eines Falles verteidigen zu können. Abgesehen davon, dass Kai gesagt hatte, ohne ein entsprechendes Nahkampftraining könnte sie sich die Idee abschminken. Und auch, wenn sie sich von ihm nicht gerne etwas sagen ließ, in seiner Firma war er der Chef und sie hatte seinen Befehlen genauso Folge zu leisten, wie seine anderen Angestellten.
Читать дальше