FÜR MIRIAM, MEINE GELIEBTE TOCHTER
STATIONEN
DER ERINNERUNGEN
1945 – 2016
Inhalt
Station I Behütet
1944 – 1951
Station II Unbelastet
1951 – 1956
Station III Hilflos, verzweifelt, unverstanden
1956 – 1960
Station IV Danke Oma, Danke Opa. Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten
1960 – 1968
Station V Weiterentwicklung, von null auf hundert
1969 – 1979
Station VI Menschliche Qualitäten
1979 – 1989
Station VII Mut zum Risiko
1989 – 1992
Station VIII Depression, Kriegserlebnis
1992 – 1993
Station IX Hoffnung
1993 – 1994
Station X Wie Phönix aus der Asche
1994 – 1995
Station XI Orientierungsphase
1995 – 1999
Station XII Erfolgreich, schönste Zeit
1999 – 2010
Station XIII Neuorientierung, Opfer beklagen
2010 – 2016
KOPFSPRUNG IN DAS WECHSELBAD DER ERINNERUNGEN 1944 – 2016
PROLOG
Heute ist der 1. März 2016.
Nachdem mich meine Frau Marina heute Morgen mit dem Auto von Pankow zum Flughafen Berlin Tegel gefahren hat, sitze ich nun in einer Boeing der Austrian Airlines und befinde mich auf dem Flug nach Wien.
Hier angekommen, ist wie immer wenig Zeit, denn mein Anschlussflug nach Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, startet bereits in einer Stunde von Gate C. Wie immer, so auch heute laufe ich, so schnell es geht, nach Personen- und Passkontrolle quer durch den Flughafen, um den Anschlussflug zu erreichen. Die zweimotorige Bombardier ist bis auf den letzten Platz besetzt. Während ich den Flug genieße, schweifen meine Gedanken zum Sinn dieser Reise, einer mentalen Reise in meine Vergangenheit. Mit dieser Vergangenheit werde ich mich im Laufe der nächsten vier Monate an einem Ort, der in wichtigen Stationen meines Lebens eine zentrale Rolle spielt, auseinandersetzen und diese Gedanken zu Papier bringen. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht.
Es ist geplant, dass ich in den ersten zwei Monaten alleine sein werde, sodass danach Marina hinzukommt und wir die weiteren zwei Monate gemeinsam verbringen.
Nebenbei gibt es in diesem Ort unsere zwei Immobilien, die ich in dieser Zeit gerne verkaufen würde. Abschied nehmen – mit einem lachenden (rationalen) und einem weinenden (emotionalen) Auge.
Nun überfliegen wir die schwarzen Berge (Montenegro). Schneebedeckte zweieinhalbtausender Gletscher, die auch im Sommer vereist und verschneit sind, tiefe Schluchten, unbewohnte Berglandschaften. Obwohl ich diesen erhabenen Anblick schon viele Male genießen durfte, bin ich auch heute wieder fasziniert.
Der Landeanflug beginnt unmittelbar hinter der Gebirgskette mit dem Überfliegen von Podgorica, das in einem Talkessel liegt. Nun dreht der Pilot das Flugzeug leicht nach Osten, um dann mit einem Schlenker westwärts, an Höhe verlierend, über eine weite Fläche des Skotari-Sees, vorbei an seitlichen Felsformationen in Richtung Landebahn zu fliegen. Selbst heute, nachdem ich in der Vergangenheit sämtliche dieser Landeanflüge überlebt habe, fühle ich hier immer noch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Der Skotari-See bildet die Grenze zwischen Montenegro und Albanien, ist Weltkulturerbe und ein Paradies für eine Vielzahl von Vögeln, die zum Teil nur noch hier heimisch sind.
Landung pünktlich 14:30 Uhr.
Im neuen, supermodernen Flughafengebäude erwartet mich Ismet. Mit seinem Golf fahren wir los. Ismet Karamanaga, pensionierter Gymnasialprofessor, Germanist und vor allem mein Freund, steuert zunächst durch ein Dorf mit einem für uns ungewohnten, balkanischen Charakter. Dem Betrachter fallen die vielen teuren Autos auf, die hier an der Straße stehen, während die Besitzer dieser Statussymbole in Straßencafés sitzen und die Zeit totschlagen. Womit diese Zeitgenossen hier an der Grenze zu Albanien ihr Geld verdienen, kann man nur vermuten.
Nun geht es vorbei am Skotari-See, den ich vor einer Stunde noch überflogen habe, vorbei an Ruinen aus dem frühen Mittelalter. Vorbei an Virbazar, einem kleinen Ort, der im Ersten Weltkrieg am Balkan eine wichtige Rolle spielte. Der Tunnel durch das Gebirge ist Montenegros ganzer Stolz. Er ist fast 5 km lang und führt zur Küste. Der Moment, an dem wir den Tunnel verlassen, ist der Zeitpunkt, an dem ich heute zum ersten Mal das Meer erblicke.
Es scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel, bei 20 Grad. Für mich ist das ein Begrüßungsgeschenk, denn genauso gut hätte es heute, am 1. März, bei nur drei Grad, stürmen und regnen können.
Von Sutumore, einem bekannten Urlaubsort, geht es über die Küstenstraße, wo um diese Jahreszeit wenig Verkehr herrscht. Nun sind es noch etwa 50 km bis Ulcinj, meiner zweiten Heimat. Wir fahren entlang der Küste, vorbei an unendlichen Pinien- und Olivenhainen und traumhaften Buchten. Von Bar, der Hafenstadt, die wir passieren, sind es dann nur noch wenige Kilometer.
Vom Ortseingang Ulcinj, am Gymnasium vorbei, überfahren wir die Ampel in Richtung Pinjes, wo am obersten Punkt der Straße das Haus steht, mein Haus, in dem ich seit 26 Jahren wohne, immer dann, wenn ich in Ulcinj bin.
Als ich am Ziel bin, sehe ich zum ersten Mal das riesige, noch im Rohbau befindliche Hotel auf der anderen Straßenseite, gegenüber unserem schönen Haus. Branko hatte mich telefonisch vorgewarnt. Trotzdem bin ich entsetzt.
Pinjes, der Teil von Ulcinj, in dem ich wohne, zeichnet sich durch gepflegte, maximal dreistöckige Einfamilienhäuser aus, die allenfalls über das eine oder andere Appartement verfügen, das zur Vermietung an Feriengäste genutzt wird. Dass hier ein achtstöckiger Klotz mit 50 Hotelzimmern und dem Charme eines 70er-Jahre-Studentenwohnheims gebaut werden durfte, ist eine Frechheit und riecht gewaltig nach Korruption. Beim Anblick dieses Gebäudes, übrigens eines von vielen dieser Art an der Küste Montenegros, tut sich zwangsläufig die Frage auf, woher die ungeheuren Summen Geld kommen, die hier verbaut und offenbar gewaschen werden. Bei einem großen Teil dieser Schandflecke wurde noch nicht einmal fertiggebaut, sodass viele Bauruinen die Küste verunstalten. Die kriminellen Strohmänner, die als Handlanger krimineller Hintermänner hier sichtbar sind, sind in der Regel aalglatte Montenegriner, die aufgrund ihrer Kontakte zu Montenegro-Regierungskreisen durch unsere hiesige Gemeindeverwaltung und Polizei nicht angreifbar sind und machen können, was sie wollen. Meine Nachbarn, alle Einheimische, denken wie ich. Wir stehen hilflos vor dieser Krebserkrankung, die immer schneller neue Metastasen setzt. Massiver Verlust an Anstand und Kultur, gepaart mit hemmungsloser Gewinnsucht prägen immer unverhohlener das andere Gesicht dieses wunderschönen Landes.
Alles andere ist wie gewohnt. Branko, unser Hausmeister, steht auf der vorderen Terrasse und erwartet mich. Branka, seine Frau, hat alles so weit vorbereitet, dass der Kühlschrank mit dem gefüllt ist, was ich gerne esse, mein Lieblingswein im Regal steht, die von Branka vorbereitete Pizza muss nur noch in den Backofen, Kaminholz ist ausreichend vorhanden. Es kann also losgehen.
Nun beginnt eine Zeit, in der ich viel träume, das Geträumte aufschreibe, in der ich lange Spaziergänge am Sandstrand oder in den Klippen mache, aber auch Abende verlebe, die ich am offenen Kaminfeuer und in der Sauna verbringe.
DER KOPFSPRUNG IN MEINE VERGANGENHEIT, auf geht’s ins Wechselbad der Gefühle, von heiter über wolkig bis stürmisch
STATION I BEHÜTET
1944 – 1951
Gezeugt hat mich mein Vater im April 1944. Meine Eltern sind Hans-August und Gerda Winkels. Gerda, geborene Schölwer, entstammte einer eingesessenen Familie in Gelsenkirchen-Buer. Mein Vater Hans, damals bei der Reichswehr, wuchs bei seinen Eltern Hans und Henriette mit zwei Schwestern in Herten-Westerholt in der Nähe von Buer auf.
Im Bauch meiner Mutter wohnte ich, ungeborener Weise, bei meinen Großeltern Hermann und Maria in Gelsenkirchen-Buer. In einer Bombennacht, Ende 1944, wurde das Wohnhaus der Großeltern völlig zerstört. Unter den Trümmern fand man mit meiner Mutter auch mich in ihrem Bauch, beide unverletzt.
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