Da das Leben in den Städten, besonders des Ruhrgebietes, damals gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sehr gefährlich war, wurden Teile der Bevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, evakuiert. So landete ich im Teutoburger Wald in der Nähe von Detmold, in Bad Meinberg. Hier kam ich am 20. Januar 1945 zur Welt.
Nachdem der Krieg vorbei war und mein Vater aus Griechenland zurückkehrte, bildeten wir drei eine kleine Familie. Da mein Vater beim Ruhrbergbau im Labor beschäftigt war, bezogen wir einen betriebseigenen Neubau, der noch zu Nazi-Zeiten fertiggestellt worden war in der Buerschen Resser Mark.
Nach eineinhalb Jahren kam mein Bruder Peter zur Welt.
Einige Dinge und Schlüsselerlebnisse der damaligen Zeit sind für mich noch heute präsent. So war z. B. alles knapp. Es musste vieles „organisiert“ werden, das heißt, es mussten ständig Wege gefunden werden, dringend benötigte Dinge des Alltags zu beschaffen.
Wir zählten damals eindeutig zu den Privilegierteren, weil Opa Hermann zusammen mit seinem Bruder Theodor eine Bäckerei betrieb und außerdem eine Schwester meines Vaters mit einem Bauern verheiratet war, die im Vorgebirge in der Nähe von Bonn lebte. Aus diesen Quellen schöpften und überlebten wir.
Wenn es aber darum ging, anderes wie z. B. Kleidung für uns Kinder oder anderes aus der Non-Food-Abteilung des Bedarfs zu beschaffen, brauchte man Geld.
Die Angestellten des Ruhrbergbaus hatten ein jährliches Anrecht auf einige Zentner Kohlen. Dieses Deputat, ausschließlich für den Eigenbedarf der Empfänger bestimmt, war aber auch ein Kapital, das darauf wartete, verflüssigt zu werden.
Nun kam meine Mutter ins Spiel. Der Begriff Kohlenschieber war damals nicht negativ belegt und gang und gäbe. Kohlenschieber waren die, die nachts mit ihren klapprigen, meist dreirädrigen, kleinen Lieferwagen vor den Häusern standen. Es waren die Ehefrauen und Mütter, die dann, meist ohne Wissen ihrer Männer, auftauchten, mit den Kohlenschiebern in den Keller gingen, wo dann gegen Bargeld der eine oder andere Sack Deputat-Kohlen den Besitzer wechselte.
Mein Vater tat immer sehr erstaunt, wenn Mutter mit Stolz die Dinge vorzeigte, die sie mit diesem Geld gekauft hatte. Offiziell durfte er von Mutters Kohlenschiebereien natürlich nichts wissen.
Nachdem unsere Familie in die Nähe von Vaters Arbeitsplatz umgezogen war, in die Westfalenstraße in Gelsenkirchen-Buer, gingen Peter und ich in den Kindergarten Sankt Ludgeri. Das muss für mich recht langweilig gewesen sein, denn an Details aus den Kindergartentagen kann ich mich nicht erinnern.
STATION II UNBELASTET
1951 – 1956
Mit sechs Jahren, also 1951, wurde ich eingeschult. Es ging in die Volksschule am Buerschen Brößweg. Auch hier gab es keine Besonderheiten. Schnell erkannte ich damals schon, dass mir musische Fächer wie Musik, Geschichte, Geografie mehr lagen als alles Naturwissenschaftliche.
Als mein Bruder Peter eingeschult wurde, war ich bereits in der zweiten Klasse. Von uns beiden war ich eindeutig der ruhigere Typ. Wenn irgend möglich ging ich aufkommenden Konflikten aus dem Weg. Ganz anders Peter. Wo auch immer versuchte er, seinen Kopf durchzusetzen, neigte zu Jähzorn und fand sich in Situationen, die für ihn ungünstig waren, sehr schwer zurecht. Wenn es zwischen ihm und anderen zum Streit kam, drohte er stets mit seinem großen Bruder. So kam es, dass ich regelmäßig in seine Kleinkriege mit einbezogen wurde und den einen oder anderen Schlag auf die Nase bekam, der eigentlich ihm gegolten hatte. Trotzdem verstanden wir uns meistens gut.
Damals waren wir uns einig, dass wir später einmal als Artisten oder Akrobaten Weltruhm erlangen würden. Um das zu erreichen, übten wir täglich, wobei wir uns an der Camilla-Mayer-Truppe orientierten, die zu der Zeit internationalen Ruf genoss und häufig in Ruhrgebietsstädten auf Marktplätzen auftrat. Die zeigten in erster Linie gewagte Hochseilakrobatik, die wir auch, aber noch besser bringen wollten.
Da wir uns zunächst einmal mit den vorhandenen Übungsmaterialien zufriedengeben mussten, genügte uns der Küchentisch, auf den man zwei Stühle aufeinanderstellte. Als Peter nun nach Akrobatenmanier auf diesen Stühlen den Handstand versuchte, rutschte der obere Stuhl ab und Peter schlug mit dem Unterkiefer auf die Tischkante. Als er mich ansah, war ich entsetzt. Unterhalb seiner Unterlippe klaffte ein stark blutendes Loch, durch das man die untere Zahnreihe sehen konnte, als er mir sagte, dass er die Übung nochmal machen wolle. Im Krankenhaus wurde genäht und die Camilla-Mayer-Truppe ging weiter.
Die kleine Narbe ziert noch heute wie ein Studentenschmiss recht vorteilhaft sein Gesicht.
Unser gemeinsames Kinderzimmer befand sich unter der Dachschräge, mit dem Fenster zur Straße. Eines schönen Tages stand unsere Mutter am Küchenfenster und blickte auf die Straße. Es irritierte sie, dass sich auf der anderen Straßenseite eine Menschenansammlung gebildet hatte. Alle schauten und zeigten mit den Fingern nach oben. Einige hatten vor Entsetzen die Hände vor ihre weit geöffneten Münder gelegt. Mutter ahnte Schlimmes, rannte die Treppe hoch … das Kinderzimmer war leer, das Fenster weit geöffnet …
Für Peter und mich war das die erste Vorstellung vor Publikum. Stolz balancierten wir über die Dachspitze und winkten den Menschen auf der Straße freundlich zu. Anstatt tosenden Applauses erfolgte ein spitzer Schrei unserer Mutter. Vorsichtig, mit zitternden Beinen, auf allen Vieren, durch den Schrei unserer Mutter verschreckt, hangelten wir uns, möglichst nicht nach unten schauend, in Richtung Dachfenster. Den Traum von der Hochseilakrobatik gab es nun für uns nicht mehr.
STATION III HILFLOS, VERZWEIFELT, UNVERSTANDEN
1956 – 1960
Diese Jahre waren ausschlaggebend für mein zukünftig schlechtes Verhältnis zu meinem Vater. Nach der vierten Klasse wurde ich vom Klassenlehrer der Volksschule zur höheren Schule vorgeschlagen. Nachdem ich die erforderliche Eignungsprüfung zur Realschule bestanden hatte, fand der Schulwechsel statt.
Hätte man mich gelassen, wäre es für mich ein Leichtes gewesen, diese Schule abzuschließen. Doch mein Vater entwickelte zu der Zeit an seinem Arbeitsplatz im Umgang mit seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten durch chronischen Geldmangel und durch Neid auf das, was andere hatten, ein enormes Aggressionspotenzial und Frust. Er brauchte ein Ventil. Er brauchte einen Stellvertreter für alle, die er hasste, und alles, was er hasste. Ein noch vorhandenes Kriegstrauma und die Tatsache, dass der Krieg seine geplante Berufskarriere zunichte gemacht hatte, verstärkten seinen Unmut. Auch hasste er mich, weil ich der Grund war, aus dem er meine Mutter heiraten musste. Seine Trinkgewohnheiten nahmen ihm zusätzlich die letzten Hemmungen.
Mit größtem Interesse verfolgte er, mit diesem Negativpotenzial ausgestattet, alles das, was an dieser Schule unterrichtet wurde. Er suchte mit sadistischer Gründlichkeit meine Schwächen im Umgang mit dem Lehrstoff, um mich dann für diese Schwächen zu bestrafen. Vor allem die Hausaufgaben unterlagen seiner strengsten Kontrolle. Alles, was ich zu Papier brachte, wurde von ihm auf Fehler untersucht. Obwohl ihm jede Kompetenz fehlte, entwickelte er Erklärungsmodelle, die er dann natürlich selber nicht verstand. Sein Frust führte dazu, dass er fast täglich auf mich einprügelte und sich bei mir große Ängste entwickelten. Die meiste Zeit verbrachte ich nicht damit, zu lernen, sondern Strategien zu entwickeln, die mich vor ihm schützen sollten. Seine Aversion mir gegenüber übertrug sich auch auf andere Dinge des Alltags, sodass schon bei Banalitäten wie auch bei kleinen Unpünktlichkeiten nicht geschimpft, sondern gleich geprügelt wurde. Verbote und Einschränkungen meiner Freizeitmöglichkeiten gehörten dazu. Modische Kleidung wie die damals von den meisten meiner Mitschüler getragenen Jeans wurden strikt verboten. Um diesen häuslichen Qualen aus dem Weg zu gehen, bekam ich dann angeblich immer weniger Hausaufgaben auf.
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