Ach so, Jenny hatte angerufen, dass sie zwei Tage später kommt.
Zuerst erschienen in "Literamus", Bd. 26, 2004
Es hat für mich von jeher einen großen Reiz, in alten Schulbüchern zu lesen, wie die Welt und unsere Heimat den Kindern vor vielen Jahren nahegebracht wurden. Am schönsten sind die Texte, die vor dem 1. Weltkrieg entstanden, als Deutschland noch unter den Völkern geachtet war und als man zum Beispiel, um Chemie oder Physik ordentlich zu studieren, an eine deutsche Universität ging, oder als man Deutsch lernte, um die deutschen Philosophen lesen zu können.
Auch lese ich gern in Büchern, die bereits die Reformbemühungen im deutschen Schulwesen zeigen und noch nicht vom Nazigeist beeinflusst sind, Texte, die entstanden, bevor ein großer Teil der deutschen geistigen Elite im Dritten Reich vernichtet oder vertrieben worden ist und das Wort Buchenwald noch nicht die kaum wieder zu tilgende furchtbare Konnotation hatte.
Lesen Sie den Abschnitt über Thüringen aus dem „Realienbuch Nr. 138 von Kahnmeyer und Schulze, enthaltend Geschichte, Erdkunde, Naturgeschichte, Physik, Chemie und Mineralogie, Ausgabe B, Mittlere Ausgabe“, erschienen in Bielefeld und Leipzig im Jahre 1932 im Verlag von Velhagen und Klasing.
Es macht Ihnen vielleicht auch Freude zu merken, wie die älteren Sprachformen noch heute ihren eigenen Reiz auf den Leser ausüben. Wir benutzen sie nicht mehr und verstehen sie dennoch in ihrer von der Lingua Tertii Imperii noch unverdorbenen romantischen Anmutung:
Thüringen, Landschaft und Volkstum
Zwischen Harz und Thüringer Wald breitet sich ein Becken aus, das von Hügelreihen durchzogen wird. Gegen den Ernst und die dunklen Farben der Waldgebirge erscheint die Beckenlandschaft freundlich und heiter. In anmutigem Wechsel umschwingen die hellwandigen, buchenwaldgekrönten Höhenzüge sanfte Talungen, in denen unter Obstbäumen versteckt am murmelnden Bachlauf die Dörfer sich erstrecken. Auch wo größere Ebenen sich dehnen, wird der Blick von Bergen begrenzt. Die Saale, die das Becken durchfließt, eilt vorbei an herrlichen Buchenwäldern, an kühnen Burgen, grünen Rebhängen und altertümlichen Städtchen.
Und dieser Landschaft, der zwar das Große fehlt, die aber an liebenswürdiger Schönheit von keiner anderen deutschen Raumschaft übertroffen wird, entspricht die Wesensart ihrer Bewohner in hohem Maße; denn schon länger als zweitausend Jahre siedeln die Thüringer in ihrer Heimat. In der Geschichte des deutschen Volkes ist der thüringische Stamm freilich nie zu hervorragender Führerrolle berufen worden, dafür mangelte ihm wohl der kriegerische Sinn. Zudem wurde der Blick in die Weite durch blaue Hügelketten eingeengt. Auch das staatliche Leben zersplitterte sich in viele kleine Fürstentümer, die sich erst 1920 zu einem Staate Thüringen zusammenschlossen. So fand der Thüringer Genüge im kleinen Kreise, hier aber bewährt er sich als fleißig und anspruchslos. Seine heitere Lebensauffassung macht ihn freundlich und gesprächig. In munteren Liedern gibt er seinem reichen Gefühlsleben Ausdruck, wie er auch Geselligkeit liebt und gern in froher Volksgemeinschaft Feste feiert.
Zuerst erschienen im Jahre 2009 in der „Thüringen-Lese“ des Bertuch Verlages Weimar, einer Internet-Publikation.
Die Predigerkirche zu Erfurt
Sie können die Predigerkirche in Erfurt nicht verfehlen, wenn Sie vom Dom in östlicher Richtung über die Ketten- und Paulstraße bis zur Meister-Eckehart-Straße gehen, ein Weg von fünf Minuten.
Die Predigerkirche hat ihren Namen vom Dominikanerorden – Ordo fratrum Praedicatorum – einem Bettel- und Predigerorden.
Im Jahre 1229 sollen nach der Legende vier Predigermönche unter der Führung des Thüringer Grafensohnes Elger von Hohnstein nach Erfurt gekommen sein und die Niederlassung gegründet haben. Bereits um 1266 wurde mit dem Bau der heute noch bestehenden Kirche begonnen.
Die Kirche ist neben ihrer gut erhaltenen spätmittelalterlichen Ausstattung vor allem von Bedeutung durch zwei Namen, Meister Eckhart und Georg Silberschlag.
„Eckhart von Hochheim“ wurde um 1260 in Hochheim bei Gotha als Sohn eines thüringischen Ministerialen geboren und gilt als der geistesmächtigste und selbstständigste unter den deutschen Mystikern.
In der Kirche finden Sie übersichtlich angeordnete Anschauungstafeln, auf denen auch Eckharts Zwist mit dem Papst beschrieben wird.
Der heutige Leser benötigt eine gehörige Portion guten Willens, eine große Fähigkeit zur vorurteilslosen Zusammenschau und die Bereitschaft, sich in die damalige Denk- und Sprechweise hinein zu versetzen (in der vielleicht der Sinn des Gesagten weniger wichtig ist als seine mystifizierende Wirkung), um Meister Eckharts Predigten zu verstehen. Lesen Sie den Meister selbst:
„Der (ewige) Vater gebiert seinen ewigen Sohn im ewigen Erkennen, und also gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele als in seiner eigenen Natur. Er gebiert ihn der Seele zu eigen, und sein Wesen hängt daran … In der innersten Quelle, da quelle ich aus in dem heiligen Geist, da ist ein Leben und ein Wesen und ein Werk … Wahrhaftig, willst du diese edle Geburt finden, so musst du ‚die Menge’ verlassen und musst zum Ursprung umkehren, aus dem du gekommen bist.“ (zitiert nach Wehr).
Georg Silberschlag (d. J.) (1563-1635), dessen steinernes Bild Sie rechts im Chorraum sehen können, war Pfarrer der Predigergemeinde in Erfurt und Senior des Evangelischen Ministeriums (der Gesamtvertretung der Pfarrerschaft des Erfurter Gebietes).
Er gehört zur weit verzweigten Familie der Silberschlags, deren wohl berühmtester Vertreter Johann Esaias Silberschlag ist. Dieser lebte von 1721 bis 1791 und war evangelischer Theologe und Naturforscher. Er wurde als Wasserbaufachmann und Schulreformer bekannt und sein Name ist mit der Einführung des Realschulunterrichts verbunden.
Von Friedrich dem Großen wurde er zum Geheimen Baurat und schließlich zum Oberbaurat für das neu errichtete Oberbaudepartement, Referat Maschinenwesen und Wasserbau ernannt. Im Jahre 1780 beobachtete er die meteorologische Erscheinung des Brockengespenstes.
Ein Mondkrater ist nach ihm benannt.
Wohin sind wir geraten, meine Leser? Von der Predigerkirche in Erfurt auf den Mond. Sobald man sich einer historischen Persönlichkeit, einem Ereignis oder einem Gebäude nähert, kommt einem der universale Charakter des menschlichen Wissens, sein innerer und äußerer Zusammenhang vor Augen.
Verlassen wir nun die einzigartige Predigerkirche und stärken uns im gegenüberliegenden Paulsturm. Er gehörte einst zur Paulskirche, die im Jahre 1736 durch einen Brand fast völlig zerstört wurde. Jetzt befindet sich ein Restaurant in dem Turm.
Wehr, Gerhard. 2002. Meister Eckhart, Leitbild der deutschen Mystik. Thüringen, Blätter zur Landeskunde. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.
Die Predigerkirche Erfurt, Schnell, Kunstführer Nr. 1855 (Erstausgabe 1990), 6., neu bearbeitete Auflage 2009. Regensburg: Verlag Schnell & Steiner GmbH.
Silberschlag, Hans. 1999. Die Rolle des Magisters Michael Silberschlag in den Wirren vor der Reduktion 1664. Aus der Familiengeschichtsforschung zu einer alten Erfurter Familie.
Silberschlag, Hans. 2004. Die Erfurter Theologen der Familie Silberschlag im 16. und 17. Jahrhundert.
Silberschlag, Hans. Wie der Name Silberschlag auf den Mond kam. Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt.
Silberschlag, Johann Esaias. 1788. Mein Lebenslauf zur Nachricht für meine Familie und Freunde. Berlin: Johann Karl Franz Eisfeld.
Überarbeitet. Zuerst erschienen im Jahre 2009 in der „Erfurt-Lese“ des Bertuch Verlages Weimar, einer Internet-Publikation.
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