Er hatte wirklich reichlich Dinge zu bedenken; am besten machte er heute Abend nach dem Dinner einen Spaziergang, denn dabei konnte er immer am besten nachdenken…
Melly zog die Stola etwas enger um die Schultern, denn zum einen war es recht kalt im Salon und zum anderen musste sie ja die Verfärbung an ihrem Arm verstecken, dort, wo ihr Vater sie mit hartem Griff gepackt hatte. Ein Wunder, dass er sie nicht geohrfeigt hatte – nur angeschrien hatte er sie, aber das mehrfach – und ihr war immer noch nicht klar, was sie sich eigentlich hatte zuschulden kommen lassen. Sicher, sie hätte wohl länger in der Bibliothek bleiben sollen… aber wozu nur? Es hatte doch niemand weiter die Bibliothek betreten? Wollte ihr Vater, dass jemand sie kompromittierte - wie genau? Und war es ihm gleichgültig, wer es war? Sie hätte ihn gerne gefragt, was denn geschehen wäre, wenn zum Beispiel Lord Horbury die Bibliothek betreten und sich nur väterlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt hätte – er hätte sie ja wohl kaum heiraten können, wenn er schon verheiratet war! Hätte Papa sich mit ihm duellieren wollen? Und was wäre mit ihr geschehen, wäre sie ruiniert gewesen? Ohne irgendeinen Fehler gemacht zu haben?
Andererseits hätte diese Frage ihr auf jeden Fall einige Ohrfeigen eingetragen.
Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr Vater wollte sie lieber heute als morgen loswerden, das war deutlich geworden. Und wenn sie ganz ehrlich war und sich nicht in töchterliche Heuchelei flüchtete, wäre sie ihn auch gerne los. Mama und Jane aber nicht…
Warum ihr Vater so sehr an seiner Familie sparte, dass sie kaum satt zu essen hatten, und warum er so verzweifelt versuchte, seine Tochter an irgendeinen Kandidaten zu verheiraten, wusste sie nicht. Er schien sich vor einer unbekannten Bedrohung zu fürchten, hatte aber offenbar niemandem reinen Wein eingeschenkt. Mama jedenfalls wusste, so sagte sie, nicht, warum er sich so gebärdete. Gewiss, der Vater warf Mama vor, dass sie keinen Sohn geboren hatte. Dann würde Lynet nach seinem Tod an jemand Fremden fallen. Von solchen Erbfragen hatte selbst sie schon gehört. Aber wäre das denn so tragisch?
Sie starrte nachdenklich in das winzige Kaminfeuer, das kaum den Bereich unmittelbar vor dem Kamingitter erwärmte. Waren sie so arm, dass es nicht einmal für Feuerholz reichte?
Die Tür wurde aufgestoßen und Melly zuckte zusammen. Ihr Vater trat energischen Schrittes herein, stocherte etwas im Feuer herum, das daraufhin noch etwas kläglicher flackerte, und drehte sich dann um.
„Warum sitzt du hier herum?“
Melly hatte sich schon gehorsam erhoben, als sich doch ein Hauch von Widerstand in ihr regte. „Was soll ich denn tun? In der Küche helfen?“
Ihre Wange brannte von dem plötzlichen heftigen Schlag.
„Du bist unverschämt, du nutzloses Gör! Und jetzt verschwinde aus dem Salon!“
Nun gut… Den Mut, ihn zu fragen, was ihn eigentlich antrieb, hatte sie nun natürlich nicht mehr.
Sie rannte aus dem Salon und die Treppe hinauf in ihr Zimmer, in dem natürlich gar kein Feuer brannte, obwohl es draußen recht kühl war. Aber ein Schlafzimmer heizen? Das kam ja gar nicht in Frage…
Was sollte sie hier nun tun? Die paar Bücher, die sie selbst besaß, kannte sie fast auswendig; aufgeräumt und geputzt hatte sie heute Morgen schon.
Im Schrank hingen fünf Kleider, von denen keines einer flickenden Hand bedurfte; auf dem Schrankboden standen zwei paar gut geputzter Schuhe und daneben ein kleiner Mantelsack, den sie eigentlich Mama zurückbringen sollte. Sie hatte die Hand schon danach ausgestreckt, als sie zurückzuckte. Zum einen durfte sie sich wahrscheinlich auch nicht auf dem Flur im oberen Stock sehen lassen, zum anderen wusste man ja nie… vielleicht konnte sie den Mantelsack noch brauchen.
Ihr knurrte der Magen, aber bis zum Dinner (edles Geschirr, wenig darauf) dauerte es noch mindestens zwei Stunden. Sie wickelte sich enger in den Schal, setzte sich an ihren Toilettentisch und beschloss, die Schubladen aufzuräumen.
Leider war diese Aufgabe im Handumdrehen erledigt, weil die Schubladen nicht mehr als einige aufzurollende Haarbänder, einen Armreifen im ägyptischen Stil (also völlig aus der Mode) und zwei leicht verstaubte Ansteckblumen enthielten.
Melly sah sich unschlüssig um und griff dann doch zu einem viel gelesenen Roman, nur um ihn wieder sinken zu lassen. Vielleicht konnte sie Mama helfen? Immerhin musste sie mit viel weniger Personal auskommen als eigentlich für ein Haus dieser Größe als notwendig galt.
Auf dem Flur vor ihrem Zimmer war niemand zu sehen, als sie vorsichtig durch den Türspalt spähte. Also schlich sie sich wieder hinunter und hoffte, ihre Mutter im Salon anzutreffen – aber ihre Mutter war nicht allein.
„Du weißt doch, worum es geht!“, hörte sie ihren Vater mit erhobener Stimme argumentieren.
„Natürlich“, war Mamas gleichmütige Antwort, „aber ich verstehe nicht, warum das so eilig ist. Die Mädchen sind noch so jung. Und auch Melly ist noch nicht reif für die Ehe.“
„Ach, Papperlapapp! Sie ist alt genug – und reif? Frauen werden ohnehin nie reif, dann ist es doch ohnehin gleichgültig.“
„Max…!“
„Lass diesen tadelnden Tonfall, Margaret. Ich bestimme in dieser Familie, ich alleine. Nur solange ich lebe, habt ihr ein Zuhause, vergiss das niemals! Danach stehet ihr auf der Straße.“
„Malst du da nicht zu schwarz, Max?“
„Keinesfalls! Und deshalb wird Melly verheiratet. Mittlerweile ist mir gleichgültig, an wen, nachdem sie sich selbst so ungeschickt angestellt hat. Der erstbeste, der vorbeikommt, soll sie mir vom Hals schaffen.“
„Du bist herzlos, Max.“ Mamas Stimme klang immer noch sanft, aber einen leisen Tadel glaubte Melly hinter der Tür doch herauszuhören.
„Herzlos? Verdammt, Margaret -“
„Also bitte!“
„Hättest du deine Pflicht getan, hätten wir zwei kräftige Söhne und eine Tochter. Eine hübsche, lebhafte Tochter“, betonte der Viscount. „Und dann hätte ich auch gar keine Sorgen… aber was hast du mir beschert?“
Darauf antwortete ihre Mutter nicht und Melly glaubte, Schritte zu hören, also huschte sie zur Treppe zurück und floh wieder in ihr Zimmer.
Was sollte sie nur tun? Was, wenn ein uralter, fetter, widerlicher reicher Mann vorbeikam? Müsste sie ihn auf der Stelle heiraten und auf Gedeih und Verderb mit ihm ziehen?
Lieber tot. Oder lieber fliehen?
Wohin nur? Zu Tante Amelia nach Andover? Bestimmt würde sie sie aufnehmen. Mamas älteste Schwester war schon länger Witwe und lebte in recht angenehmen Verhältnissen. Wenn sie eine Nichte bei sich hätte, die mit ihr stickte, ihr vorlas, die beiden Möpse striegelte und mit ihr spazieren ging… das klang eigentlich recht nett.
Aber wie dorthin gelangen?
Wo fuhr denn die Post? Und wie sollte sie die Post bezahlen? Mama konnte sie natürlich nicht um Geld bitten, Jane hatte genauso wenig auch nur einen Penny wie sie selbst…
Sollte sie sofort fliehen – oder warten, wie dieser erstbeste Heiratskandidat aussah, dem sie zu folgen hatte? Eigentlich war sie zu ängstlich für eine Flucht, aber blieb ihr denn eine Wahl?
Was war mit ihrem Onkel, Mamas jüngerem Bruder Marron? Seltsamer Name, übrigens…
Marron, der gegenwärtige Herzog von Dunmore, mit Ehefrau und vier Söhnen, um die ihr Vater ihn schon wortreich beneidet hatte… Söhne besaß er reichlich, Vermögen aber auch nicht unbedingt mehr als die Familie de Lys; er würde sich über einen weiteren Esser nicht freuen und die unnütze Nichte gewiss umgehend zurückschicken.
Sie seufzte und betrachtete den Mantelsack im Schrank, der eine Flucht andeutete – ja, versprach! – die offensichtlich unmöglich war. Ja, wenn sie nicht ein derartiger Angsthase wäre… aber wohin sollte sie schließlich fliehen?
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