Wang Yun ist 31 Jahre alt und kommt aus einer kleinen Stadt ein paar Stunden Zugreise entfernt von Shanghai. Klein nennen die Chinesen die Stadt, weil sie nur ungefähr 2 Millionen Einwohner hat. Wang Yun hat auf Zypern und in Newcastle studiert, in China überhaupt nicht. Im Ausland zu studieren ist in China große Mode. Wer es sich nur leisten kann, geht beim Studium ins Ausland. Um die 150 000 studieren zurzeit in den USA, um die 120 000 in England und 20 000 in Deutschland. Wang Yuns Eltern sind nicht reich, aber hatten genug gespart, um das Studium ihrer Tochter im Ausland zu finanzieren. Sie studierte Informatik und als sie nach ihrem BA. nach China zurück kam, fand sie auf ihrem Feld keinen Job, aber eine Privatschule in Shanghai war an ihr und besonders an ihren Englisch-Kenntnissen interessiert. Es war ein Internat und nannte sich „Internationale Fremdsprachenschule“. Auch die sind in China große Mode. Und es gibt sie sogar schon als Grundschulen. Die meisten chinesischen Eltern sind ehrgeizig und mit dem frühen Lernen von Fremdsprachen und dabei natürlich vor allem von Englisch, versprechen sie sich einen Vorsprung im Rennen um die besten Plätze.
Die chinesische Grundschule in Wuxi, in der unsere deutsche internationale Zwergschule sich befand, hatte sogar beschlossen, einen Lehrer nach Deutschland zu schicken zu einem Sprachprogramm des Goethe-Instituts, um Deutsch zu lernen, damit er dann ein paar Klassen in Deutsch unterrichten könne und war damit die erste Grundschule in China, die plante, Deutsch als Lehrfach einzuführen. Normalerweise hätte Wang Yun an einer Hochschule eine Ausbildung zur Grundschullehrerin machen müssen, aber es werden sowohl an privaten wie auch staatlichen Schulen Lehrer ohne diese Ausbildung angestellt, wenn sie eine gute fachliche Qualifikation nachweisen können.Nach einer Einlernzeit von ein bis zwei Jahren können sie dann auch die nötigen pädagogischen Examen nachholen.
Internate sind in der Erziehungslandschaft der Volksrepublik China kein neues Phänomen, besonders in ländlichen Gebieten gab es sie schon immer, allerdings in der Regel für ältere Kinder ab der fünften Klasse bis zum Gaokao, dem chinesischen Abitur. Die Kinder haben oft einen weiten Weg von ihrem Heimatdorf in die höhere Schule, da ist es praktischer, sie gleich bei der Schule auch übernachten zu lassen. Jetzt werden Internate aber auch in den Städten immer populärer. Viele Eltern haben keine Zeit oder wollen sich keine Zeit nehmen für ihre Kinder, weil sie so sehr am Geld und Geldverdienen interessiert sind, dass sie keine Zeit mehr für die Kinder haben. Andererseits müssen sie auch viel Geld haben, um sich eine Internatsplatz für ihr Kind in der Stadt leisten zu können. 30 000 bis 50 000 Yuan ( 3500 bis 6000 E ) pro Jahr kostet der für kleine Kinder im Grundschulalter und ein paar Tausend Yuan mehr für Kinder in höherem Alter. Das ist das Doppelte des durchschnittlichen jährlichen Einkommens in Chinas Städten. Ein unqualifizierter Fabrikarbeiter hat nur um die 20 000 Yuan im Jahr. Auch die Millionen von Bauarbeiter, die Chinas Großstädte hochziehen, verdienen ungefähr so viel.
Die Schule verließ Wang Yun nach zwei Jahren, genauer gesagt, wurde sie gefeuert.Aber sie erklärt, dass es nicht an ihr gelegen habe. Die Privatschule war Teil einer weit verzweigten staatlichen Stiftung, die auch einen Verlag, verschiedene Theater, Kindergärten und Training-Center betrieb und außerdem in Wohlfahrtsaktivitäten engagiert war.Als eine neue Leiterin eingestellt wurde, feuerte die zwei Drittel aller Lehrer, um sich eine loyale Anhängerschaft zu verschafften, die sie selbst auswählte.Wang Yun fühlte sich nicht besonders wohl in dieser Schule, viel zu viel sei es um Macht und Einfluss gegangen im dem Konzern, statt um das Wohl der Kinder.
„Wenn ich in einem Gymnasium arbeiten würde, könnte ich mir jetzt ein Haus bauen, wenn ich wollte“ lacht Wang Yun. In China ist es üblich, dass man dem Lehrer Geschenke gibt, es gibt sogar einen Lehrer-Tag, an dem die Geschenke besonders reichlich fließen. An der Grundschule halten sich die Geschenke noch in Grenzen, obwohl ihr Eltern auch schon ein Couvert mit 8000 Yuan zusteckten, ein Viertel mehr als ihren Monatslohn, was sie zurückwies, wie sie jedes Geld-Geschenk zurückgab. Blumen, Früchte, Kekse nimmt sie gerne an. Die Eltern versprechen sich davon, dass ihre Kinder besonders behandelt und gewürdigt werden und in der großen Zahl von Kindern, die in den Klassen so üblich sind, nicht untergehen. Mindestens vierzig Kinder haben die Klassen, es können aber auch schon 60 sein.
Heute arbeitet sie an einer großen staatlichen Grundschule in Shanghai. Um die 6000 Yuan verdient Wang Yun im Monat nach Abzug von Steuern, das ist erheblich über dem Durchschnittseinkommen in Shanghai von 3 bis 4000 Yuan. Dafür arbeitet sie 20 Unterrichts-Stunden pro Woche. Ihre Schule hat 5000 Kinder in fünf Schulgebäuden über einen großen Distrikt verteilt. Auch diese Schule ist eine Fremdsprachenschule und in den jährlichen Wettbewerben der Grundschulen in Shanghai liegt sie ganz vorne, wie sie mit einem gewissen Stolz mitteilt. Am Ende der Grundschule findet eine wichtige Prüfung statt, die schon die ersten Weichen für die zukünftige Laufbahn stellt. Von guten Noten hängt nämlich ab, in welche weiterführende Schule die Kinder gehen dürfen. Denn da gibt es erhebliche Rang-Unterschiede und die Schulen mit dem besseren Ruf sind sehr begehrt.
In der PISA-Studie haben die Shanghaier Kinder hervorragend abgeschnitten, sagt Wang Yun stolz. Der Unterricht sei nach den modernsten wissenschaftlichen Methoden aufgebaut, sie müsse für jeden Arbeitsschritt in jeder Klasse detaillierte Pläne vorlegen. Sie benutzten Power-Point-Vorträge, Filme, Musik, Lieder, kleine Gruppengespräche, kurze Handlungsdialoge und oft, das gibt sie etwas verschämt zu, das gemeinsame Sprechen und Nachsprechen im Chor.
Bei vierzig Kindern in einer Klasse sei Disziplin sehr wichtig und oft sei sie kurz vor dem Ausrasten. Schlagen sei nicht erlaubt, aber oft fühlte sie sich danach, sie schreie stattdessen die Kinder an.Sie bete zum Himmel, dass sie mehr Geduld lerne, aber oft sei sie am Ende ihrer Geduld.Immer und immer wieder müsse sie dasselbe sagen. Alle Kinder müssen, wenn sie nicht am Schreiben sind, während des Unterrichts ihre beiden Ellbogen auf den Tisch und ihre beiden Hände auf die in einander verschränkten Unterarme legen. Das ist Vorschrift, darauf muss sie achten, diese Regel muss sie durchsetzen. Denn sonst seien sie ständig mit ihren Händen am Spielen mit irgendwas, bevorzugt mit ihren Handys oder Spielkonsolen. Als Strafe lässt sie die Kinder manchmal aufstehen und stehen, so lange bis sie sich wieder beruhigt haben.
Nach der Schule, die im Grundschulalter um vier Uhr zu Ende ist, haben die Kinder noch Hausaufgaben zu erledigen in den Fächern Englisch, Chinesisch und Mathematik. Ein und ein halb Stunden werde dafür als normale Arbeitszeit veranschlagt, wenn die Kinder nicht so geschickt sind, brauchen sie eben länger. Ihr Eindruck sei, viele Eltern kümmerten sich nicht genug um die Hausaufgaben ihrer Kinder. Das sei zu ihrer Kindheit noch anders gewesen. Vor ein paar Jahren hat die amerikanische Chinesin Amy Chua einen Bestseller über ihre harschen und ehrgeizigen Erziehungsmethoden geschrieben, mit denen sie ihre Kinder zu Höchstleistungen antrieb. Sie hat ihre Methode als Weg des Drachen beschrieben und damit als typisch für die chinesischen Eltern und deren Mentalität. Mein Eindruck ist, das entspricht nicht den Tatsachen. Sicher ist ihre Einstellung unter chinesischen Eltern weit verbreitet, aber sie als typisch zu bezeichnen wäre übertrieben. Ich habe viele Eltern und Jugendliche kennen gelernt, die mir von einem relativ entspannten Verhältnis zu Leistung und Erfolg berichteten.
Nach der Grundschule gehen alle Schüler in eine sogenannte Mittelschule, die drei Jahre dauert, danach zweigen um die zwei Drittel der Schüler in eine Berufsausbildung ab, die restlichen gehen weiter für drei Jahre auf die höhere Schule und von dort aus in die Universitäten.
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