Ganz und gar nicht. Er würde sterben, sollte er diese Frau heiraten, sagten die Eltern dem geschockten Sohn. Sun Lei glaubt, dass das aber nur vorgeschoben war. In Wirklichkeit seien die Eltern nicht zufrieden gewesen mit ihrer sozialen Herkunft, ihrem bäuerlichen provinziellen Hintergrund. Die Eltern waren in den letzten Jahren zu großem Reichtum gekommen und erwarteten jetzt eine standesgemäße Tochter. Vermutlich liegt sie richtig mit ihrer Vermutung.
Natürlich wollte der Sohn das Urteil eines zweiten Astrologen. Insgesamt sechs wurden befragt. Alle hätten dasselbe gesagt. Davon erfuhr Sun Lei aber leider erst, als sie entdeckte, dass ihr Freund und zukünftiger Ehemann eine zweite Freundin hatte. Der hatte sich nämlich schon auf Brautschau begeben, als er von den schlechten Zukunftsaussichten einer Ehe mit Sun Lei gehört hatte, ohne es ihr mitzuteilen.
Natürlich war sie geschockt, wütend, verletzt, verwirrt, hielt aber verzweifelt fest an ihrer Beziehung. Und dann wurde sie schwanger. Auf den Knien liegend und heulend sei ihr Freund auf sie eingedrungen, das Kind abtreiben zu lassen.
„ Manchmal vermisse ich das Kind“ sagt Sun Lei und muss mit den Tränen kämpfen. „Es war eine dunkle und schwere Zeit. Ein Jahr lang habe ich jede Nacht geweint. Ich habe meine große Liebe verloren, ich habe mein Kind verloren, ich war allein in Shanghai und meine Eltern weit weg, ….aber die hätten mich sicher nicht unterstützt, ein Kind ohne Mann groß zu ziehen, gilt als Schande“. Das ist jetzt ein Jahr her. Der Verlust ihres Kindes und dieses Mannes, den sie schon als ihren Ehemann gesehen hatte, hat eine tiefe Wunde in ihr hinterlassen.
Manchmal chattet sie schon wieder mit möglichen Ehekandidaten, aber sie weiß, dass sie noch mehr Zeit braucht, um die Wunde zu heilen und alles zu verarbeiten.
„Aber in einem Jahr vielleicht“ sagt sie und lächelt wieder tapfer „In einem Jahr vielleicht ist es soweit, dass ich wieder heirate. Ja, in einem Jahr will ich den neuen Mann gefunden haben.“
Und wie sie das so sagt, mit dieser Zuversicht in ihrem Blick, glaubt man ihr wirklich, dass sie das auch schafft.
Wenn man sie fragt, was sie vom politischen System und den gesellschaftlichen Verhältnissen in China hält, platzt es aus ihr heraus: „Ich hasse das System! Korruption! Ungerechtigkeit! Eine kleine Schicht von schwerreichen Bonzen und massenhaft arme Leute. Unfreiheit! Alles wird zensiert. Keine freie Presse! Sogar im Internet verschwinden ständig Informationen, man traut sich nicht, offen zu sprechen. Unterdrückung! Wenn einer den Mund aufmacht in der Öffentlichkeit, verschwindet er im Knast. Vor allem die Korruption, als in unserem Dorf ein Junge zum Militär wollte, wurde er abgelehnt, ein Kumpel von ihm, der reichere Eltern hatte, wurde angenommen, er hat ordentlich bezahlt. ( Ein Job in der Armee ist bei vielen jungen Leuten sehr begeht, besonders bei armen Leuten in der westlichen Provinzen, weil er ein festes Einkommen, eine gute Ausbildung und gute Aufstiegschancen bietet )
Im Internet kursiert ein Witz: „Früher habe ich Tschiang Kai Scheck gehasst, weil er die Kommunisten bekämpfte, heute hasse ich Tschiang Kai Scheck, weil er Mao nicht besiegt hat“.....Wenn Tschiang Kai Scheck gewonnen hätte, dann wäre China heute wie Taiwan, das wäre doch viel besser.“ Tschiang Kai Scheck war der große Gegenspieler Maos aus dem bürgerlichen Lager, der erst nach einem langen blutigen Bürgerkrieg von Mao besiegt wurde und dann mit seiner Armee nach Taiwan floh.
Wie viele junge Leute, ist sie aufgebracht und verärgert über die allgemeine Unterdrückung, die die ganze Gesellschaft durchdringt. Aber man muss sie schon sehr gut kennen, damit sie das einem Fremden auch mitteilen. Trotz der Unterdrückung und wegen ihr gärt es überall im ganzen Volk. In den letzten Jahren ist es zunehmend zu Protesten, Demonstrationen und lokalen Aufständen gekommen, es wird von tausenden jährlich in ganz China berichtet. Es geht um Korruption, Betrug, Löhne, Umweltverschmutzung und Arbeitsbedingungen.
China investiert Milliarden in Universitäten und Forschungseinrichtungen, immer breitere Schichten der Bevölkerung werden immer besser ausgebildet.Immer mehr Fremde, westliche Ideen, westliches Knowhow kommen ins Land, immer mehr junge Chinesen studieren im Ausland oder arbeiten im Ausland, Auslandschinesen kommen nach China zurück, über das Internet sind viel mehr Informationen zugänglich als der Regierung lieb sein kann, die verzweifelt immer neue Dämme baut gegen die Flut. Aber wie lange können die Dämme noch halten?
Mao Tse Dong hatte in den sechziger Jahren die Kampagne „Lasst 1000 Blumen blühen“ ins Leben gerufen und öffentlich lautstark die Menschen im Land zur Kritik an der Partei, an der Staatsführung, am Gesellschaftssystem, an den allgemeinen Zuständen aufgerufen, um Verbesserungen herbeizuführen und diejenigen, die dann mit Kritik sich meldeten, wurden wenig später hart bestraft. Bis die Menschen begriffen, dass sie in eine Falle geraten waren, die ihnen bewusst gestellt worden war. „Wir locken die Schlangen aus ihren Löchern heraus, wir bieten ihnen eine Beute und schlagen dann zu“ soll Mao in kleinem Kreis gesagt haben. Vielleicht 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung sei Revolutionsfeindlich, würde sich aber verstecken, diese Leute müssten ausgemerzt werden. Die Angst vor Repressalien steckt den Menschen in China tief in den Knochen und sie wissen noch nicht, ob die jetzige Blüte der relativen Freiheit eine Öffnung ist hin zu einer immer größeren Sicherheit in der Freiheit oder nur eine Scheinblüte, eine Falle, die jederzeit zuschnappen kann.
So lange der Staat materiellen Wohlstand versprechen kann, Aufstieg und wirtschaftliches Wachstum, ist der schwelende Volkszorn zu kanalisieren und wird in Arbeit umgewandelt. Ganz China scheint zurzeit den Gott des Gelds und des materiellen Wohlstands anzubeten, dem alles geopfert wird. Und das ist zum Teil auch ganz wörtlich zu verstehen, denn viele Chinesen haben eine Statue des Geld-Gottes zu Hause oder in ihrem Geschäft. Aber wehe, der Wachstums-Motor gerät ins Stocken, eine wirtschaftliche Krise erfasst das Land. Dann hängt die Herrschaft der jetzigen Elite am seidenen Faden. Heute, 2014 deuten einige Indikatoren darauf hin, dass der heisslaufende Motor der chinesischen Wirtschaft in Turbulenzen gerät.
In der Welt-Wirtschaftskrise 2008 hat der chinesische Staat und vor allem auch die Kommunen massiv in Infrastruktur investiert, um die chinesische Wirtschaft, die extrem exportabhängig ist, vom Absturz zu retten. Erfolgreich, aber zu einem hohen Preis: Staatlicher und kommunaler Verschuldung. Zweit Drittel der komunalen Einnahmen stammen aus dem Immobilienmarkt, denn alles Grundeigentum gehört dem Staat, der Land nicht verkauft, sondern nur die Nutzungsrechte auf Zeit verpachtet. Auf Grund der überhitzten Immobilienpreise könnte ein Absturz der Preise eine ähnlich heftige Krise auslösen wie der Absturz der überhöhten Immobilien-Preise dies in den USA getan hat 2008. Schon jetzt befinden sich einige chinesischen Kommunen am Rande der Pleite.
Als ich in China ankam, war es Winter und Schnee lag auf den kleinen, grauen, in einander verschachtelten Häusern entlang der neu gebauten breiten Hochstraße, die sich über den Kanal schwang. Die Brücke war für den öffentlichen Verkehr noch gesperrt, aber Fußgänger und Roller waren schon unterwegs auf der breiten Beton-piste. Auf der linken Seite der Trasse hatten hohe Wohnblocks schon die alten Siedlungen ersetzt, aber auf der rechten standen noch die kleinen zweistöckigen Häuschen, die in den fünfziger Jahren gebaut worden waren. Auf den Balkonen hing die Wäsche, es sah armselig und düster aus, dunkle enge Gassen verliefen zwischen den graubraunen Beton-Wänden. Die neue Straße sah aus, als habe sie eine Schneise in die Siedlung geschlagen, so dicht an ihr ragten die Mauern der alten Häuser empor. Alles machte einen etwas tristen Eindruck. Vielleicht lag es auch an dem trüben Winterwetter
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