Vor der Reform hatte vor allem die Landbevölkerung unter Hunger zu leiden, nicht die Städter. Und das nicht nur zu den fürchterlichen Hungerperioden am Ende der fünfziger Jahre, bei denen Millionen von Menschen starben, Schätzungen liegen bei 10 bis 40 Millionen Menschen.
Bei dieser großen Hungersnot sorgte die Partei mit gewalttätigen Mitteln dafür, dass die Städter versorgt blieben und überließ die Landbewohner dem Hunger und zu einer großen Zahl auch dem Hungertod. Das hatte auch mit dem Provinzfürsten zu tun, die, um sich wichtig zu machen, immer neue Rekordernten voraus sagten und nach Beijing meldeten und die dann diese Zahlen auch einhalten mussten, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollten. Dazu kamen die Umbrüche des sozialen Zusammenhalts durch die Kollektivierung, die Abwanderung zu den Fabriken in den Städten und die Anweisung von oben, große Teile der ländlichen Bevölkerung für den Aufbau von Industrie und Verkehrswegen einzusetzen. Außerdem wurden zu Zeiten der größten Hungerkrise von der Regierung Millionen Tonnen von Getreide exportiert, bis zum Ende des Jahres 1959 waren es 4,3 Millionen Tonnen. Zum großen Teil, um damit Rüstungsgüter und Atomwaffentechnologie von der Sowjetunion einzukaufen. Dazu wird von manchen Historikern heute beschwichtigend gesagt, das seien nur etwa 2,3 Prozent der gesamten jährlichen Ernte gewesen. Aber andererseits: Wie viele Menschen hätte man mit vier Millionen Tonnen Getreide retten können?
Jun Chang, eine der schärfsten Kritiker Maos, sagt in ihrer Biografrie des roten Kaisers, er habe aus größenwahnsinniger Geltungssucht die Industrialierung und Aufrüstung Chinas vorangepeitscht auf Kosten und auf den Knochen der Landbevölkerung, die zermahlen wurde unter den Rädern dieses „Fortschritts“ .
China hatte allerdings schon seit dem 18.Jahrhundert ständig Probleme mit der Nahrungsversorgung. Durch eine Verdoppelung der Bevölkerung schon im 18. Jahrhundert gab es einfach zu wenig bebaubares Land für zu viele Menschen. Selbst heute ist diese Lage eine ständige Gefahr. Laut Berichten der „China Daily“, also einer offiziell staatlich kontrollierten Zeitung, ist auch heute noch fast ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren in Chinas Armutsgebieten unterernährt. Das betrifft die Provinzen Guizhou, Yunnan und Qinghai, die sich im Süden und Westen befinden.
Auch Sun Lei berichtet, dass ihre Eltern und die Leute im Dorf schon von früher Kindheit an, also seit Gründung der Volksrepublik, mit Hunger leben mussten. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber der nagende Hunger war immer präsent. Erst in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, also nach Maos Tod, hat sich das gebessert. Die Bevorzugung der Städte war von Anfang an eine klare politische Entscheidung der kommnistischen Führung. Da die Industrie vor allem in den Städten angesiedelt war, bekam die materielle Versorgung der Städter absolute Priorität. Diese Entscheidung hat Nachwirkungen bis heute: Ein durchschnittlicher Landmensch verdient viermal so wenig wie ein durchschnittlicher Städter. Die Armut ist auf dem Land zu Hause.
Nach dem Kindergarten ging Sun Lei in die Dorfschule, die sich im Nachbardorf befand. Erst zu Fuß, später mit dem Fahrrad. Dort wurde noch geschlagen, ein oder zwei Mal in der Woche wurde ein Schüler mit einem Stock auf die Hand oder auf den Hintern geschlagen, Ohrfeigen gab es öfters. Manchmal auch einfach, wenn der Lehrer schlechte Laune hatte.
Danach wechselte sie in eine höhere Schule in die Stadt. Dort wurde in den ersten Jahren noch geschlagen, zum Glück wurden die Mädchen nur angeschrien, wenn sie nicht parierten, die Jungs aber wurden auch getreten oder geohrfeigt.Je älter sie wurde, desto mehr entwickelte sie den brennenden Ehrgeiz, gute Noten zu schaffen, denn sie hatte jetzt ganz klar als Ziel vor Augen, das Dorf zu verlassen, zu studieren und sich einen guten Job in einer Großstadt im Osten, an der Küste zu besorgen, Shanghai vielleicht…Der Traum von Millionen aus den armen Gebieten im Süden und Westen des Landes. An der Küste, wo die großen Häfen sind, hatten sich die westlichen Konzerne niedergelassen, dort boomte die Industrie, dort war Wachstum, Entwicklung, dort waren glitzernde Großstädte und neue Möglichkeiten, dort war Aufstieg möglich, lockte ein freieres Leben, warteten Kinos, schicke Kleider, reiche Männer…
Ihre Eltern unterstützten sie. Auch sie hatten diesen Traum, zumindest ihre Kinder sollten ihn erleben. Ihr Bruder ging schon mit 13 Jahren zur Armee. Das ist sehr ungewöhnlich, denn normalerweise kann man nicht vor 18 Jahren zur Armee. Aber da ihr Onkel ein hochrangiger Offizier ist, ließ sich das irgendwie arrangieren. Dort war er gut versorgt und konnte langsam die Karriereleiter empor klettern.
Zu Hause gab es öfters Krach. Ihr Vater fuhr leicht aus der Haut, rastete aus, schrie herum, drohte mit Scheidung, wie auch ihre Mutter immer wieder an Scheidung dachte. Aber auf dem Land ließ man sich nicht so leicht scheiden. Das war eine zu ernsthafte und einschneidende Sache. Man machte so etwas einfach nicht. Sun Lei glaubt, dass ihr Vater auch deswegen so oft ausrastete, weil er sich unter Druck fühlte. Weil die Familie ihrer Mutter nur Töchter hatte, musste eine Tochter zu Hause bleiben, um sich um die Eltern zu kümmern. Diese Tochter war ihre Mutter und ein Mann, der in die Familie seiner Frau einheiratete, war in der Dorfgemeinschaft unten durch. Normalerweise zog die Frau nach der Heirat in das Haus und zur Familie ihres Mannes.
Aber vielleicht hatten seine Krisen auch mit dem neuen Haus zu tun, das die Eltern jetzt hochzogen. Wie die anderen im Dorf mussten auch sie jetzt ein neues Haus haben. Die Lebensmittelpreise zogen an, Vaters Geschäfte liefen besser, es kam mehr Geld ins Haus. Drei Stockwerke hoch ist das Haus, das die Eltern vor zehn Jahren bauten. Die meisten alten Häuser im Dorf wurden durch drei bis vierstöckige neue ersetzt. „Das Dorf ist heute nicht mehr wieder zu erkennen“ sagt Sun Lei. „Vor zehn Jahren waren solche Häuser noch billig. 30 bis 40 000 Yuan (um die vier- bis fünftausend Euro ) heute kosten sie mindestens zehn Mal so viel“
Alles in China´s höheren Schulen strebt gegen Ende dem „Gaokao“ zu, der landesweiten dreitägigen Prüfung, die darüber entscheidet, in welche Universität ein Schüler zugelassen werden kann. Die Universitäten unterscheiden sich in ihrem Rang, ihrer Ausstattung und ihrem Lehrangebot erheblich. Es gibt Elite-Universitäten und einen breiten Mittelbau, darunter Hochschulen, die mit deutschen Fachhochschulen oder gar Berufsschulen vergleichbar sind.
Sie schaffte es in eine Universität, die im mittleren Bereich liegt, angesiedelt in einer großen Stadt ihrer Provinz. Dort war sie gar nicht fleißig, wie sie heute mit Bedauern gesteht. Stattdessen verbrachte sie viele Stunden mit Chatten und Computerspielen und wenn sie nicht chattete im Internet dann schwätzte sie mit ihren Freundinnen oder ging einkaufen und Federballspielen. Ihr Schwerpunkt war Tourismus-Management.Sie genoss es, weg von zu Hause zu sein, in der Stadt herum zu streichen, und neue Freundinnen zu gewinnen. Das Leben war aufregend und alle Türen schienen offen. Für die Familie war es nicht leicht, die Studiengebühren für sie aufzubringen und ihren Lebensunterhalt zu bezahlen, aber wie die meisten Familien in China alles für die Karriere ihrer Kinder tun, taten auch sie alles, um ihrer Tochter den Aufstieg zu ermöglichen. Nach vier Jahren Studium und einem Bachelor-Abschluss schnupperte sie in die Berufswelt und landete nach mehreren Versuchen bei verschiedenen Firmen in anderen Städten in Shanghai, bei ihrer heutigen Firma.
Den Mann, der ihr das Herz brach, lernt sie vor drei Jahren im Internet kennen. Sie dachte, er ist der richtige, natürlich zum Heiraten. Er dachte es auch. Sie wollten heiraten. Er war fünf Jahre älter als sie und arbeitete in einer Regierungsabteilung, war ehrgeizig, gerade dabei, seinen Doktor zu machen. Aber dann rieten ihm seine Eltern ab, diese Frau zu heiraten. Sie hatten einen Astrologen konsultiert, der überprüfen sollte, ob sie beide entsprechend der Geburtstage zusammen passten.
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