Der Himmel war milchig grau, es war kalt, ein paar Grad unter Null, die Luft roch manchmal schweflig verdorben, über dem Fluss in der Ferne lag Nebel, oder waren es Schwaden von Abgasen? Trotzdem, ich fühlte mich wohl unter meiner warmen Mütze. Auf dem Kanal unten war reger Verkehr, Kohlenschlepper zogen auf und ab in großer Zahl… Ich strich an der Straße entlang, in der ich wohnte. Ganz besonders zog mich ein Laden an, der voll war mit kleinen Backwaren, verpackt in kleine Tütchen und allerlei Naschwerk, Bonbons und Süßigkeiten. Ich staunte, keine einzige dieser vielen kleinen Kostbarkeiten hatte ich je zuvor gesehen. Wie ich überhaupt die ersten Wochen immer nur am Staunen war.
Die Leute sahen meinen staunenden Blick und auch sie staunten, mich hier zu sehen. Weit und breit sah ich keinen anderen Menschen aus westlichen Ländern, in Wuxi waren Neuankömmlinge aus dem Westen noch eine echte Sensation und die Leute blieben stehen und schauten mich an und mir nach.Ich konnte kein Wort Chinesisch. Also schauten wir uns nur staunend an. Es waren freundliche Blicke. Ich hatte noch nie etwas davon gehört, dass Fremde in China überfallen, ausgeraubt oder betrogen worden wären. Ich erwartete nur das Beste.
Meine Augen waren offen und vertrauensvoll. Und die Gesichter, die ich sah, flößten mir auch Vertrauen ein. Einfach, naiv, unschuldig kamen sie mir vor, offen und zugetan. Manchmal schienen sie verhärtet und verhärmt von einem harten Leben und mein staunender freundlicher Blick schien wie ein Strahl Sonne ihre Züge zu erwärmen, so dass sie lächelten und sich aufgeregt über mich unterhielten.
Ich wohnte in einem Hochhaus im 13. Stock. Man konnte sogar die Fenster öffnen und weil die Chinesen in der Regel etwas kleiner sind als die westlichen Menschen, war auch die Brüstung ziemlich niedrig, so dass ich mich, wenn ich mich hinauslehnte, etwas schwindlig fühlte und so, als könne ich gleich hinüberkippen und hinausfallen. Unter mir dehnte sich eine Stadt aus, die ich nie zuvor gesehen hatte: Wuxi. ( Wird „U-Schi“ ausgesprochen ) Kein Mensch kennt Wuxi, jedenfalls hat kein Mensch in Deutschland von Wuxi jemals etwas gehört. Und doch sollte diese Stadt ungefähr fünf bis sechs Millionen Einwohner haben, also grösser sein als die größte deutsche Stadt Berlin. Heute, sechs Jahre später, 2014, hat die Stadt sieben Millionen Einwohner, ist also in den letzten Jahren rasant gewachsen. Die Stadt liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai, 100 km vom Meer entfernt.
Unter mir reihte sich ein Wohnblock an den anderen, ein riesiges Viertel war bedeckt mit dieser Reihung eines und desselben Typs von Wohnblock, der ungefähr 5 Stock hoch war. Weiter hinten stand ein mächtiger grauer Hochhausgeselle, der an russische Stalin-Architektur erinnerte, trutzig hochgereckt mit Erkern und Türmchen und einem spitzen Dach, wahrscheinlich aus der Zeit, als China rege Kontakte zur Sowjetunion pflegte. Rechterhand jenseits einer breiten vierspurigen Straße breitete sich ein altes Stadtviertel aus, kleine graue Häuschen dicht zusammen geschart und am Horizont eine Skyline von Wolkenkratzern in verschiedensten Formen silbrig glitzernd, etwas verschwommen im Dunst. Auch weiter rechts in der Ferne sah man Hochhäuser stehen, die Stadt breitete sich aus soweit das Auge reichte, ein Ende war nicht in Sicht….
Ich fühlte mich sehr fremd und sehr weit weg von der Heimat. 12 Stunden dauert der Flug Non-stop von Frankfurt nach Shanghai. Ich war auf der anderen Seite der Erdkugel angekommen. Schon immer hatte ich mich danach gesehnt, dieses Land kennen zu lernen, seitdem ich die ersten Zeichnungen und Skulpturen aus China gesehen hatte und Schriften von Lao Zu, ganz abgesehen davon, dass mich die zunehmend aufregender werdenden Nachrichten vom wirtschaftlichen Aufstieg des alten verschlafenen Riesen neugierig machten.
Außerdem fand ich es sehr spannend, mich so fremd zu fühlen. Nichts ist langweiliger als das Altvertraute. „Verfremdungseffekt“ wird in der Literatur eine erzählerische Technik genannt, die es schafft, das Altbekannte so zu beschreiben, dass es uns sehr sonderbar, ja fremdartig vorkommt. Vieles, was uns als selbstverständlich erscheint und was wir deshalb schon völlig übersehen und gar nicht mehr wahrnehmen, wird dadurch erst bewusst gemacht. Am besten gelingt dieser Effekt natürlich, wenn der Beobachter und Berichterstatter gar nicht altvertraut ist mit seiner Umgebung, sondern völlig fremd.
Ich unterrichtete in einer kleinen deutschen internationalen Grund-Schule, die einmal eine große werden und dann bis zum Abitur führen sollte. Als ich den Leiter der Schule, Professor S., noch in Deutschland bei einem Vorstellungsgespräch kennenlernte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass erstens der Mann kein richtiger Professor war sondern nur ein „chinesischer“ , d.h. er hatte den Titel sich zukommen lassen bei Geschäften mit einer chinesischen Hochschule und zweitens die Schule nur 12 Kinder hatte. Die Schule war erst vor einem Jahr gegründet worden und außerdem gab es nicht so viele Deutsche in Wuxi mit Kindern, und die meisten, so stelle ich später fest, hielten nicht so viel von der kleinen Schule und schickten ihre Kinder lieber in eine große etablierte internationale Schule in Wuxi. Weil jeder Zögling in der deutschen Schule um die 1000 Euro im Monat zu bezahlen hatte und die wenigen Lehrer mit bescheidenen chinesischen Gehältern abgespeist wurden, war das gar kein schlechtes Geschäft. Neben der kleinen Schule hatte Herr S.auch Ausbildungsprogramme an mehreren chinesischen, technisch ausgerichteten Hochschulen eingerichtet, die Abschlüsse in Fächern wie Betriebswirtschaft und Marketing anboten und von deutschen Lehrern betreut wurden. Er verkaufte das deutsche duale Ausbildungssystem, eigentlich eine gute Idee weil es so etwas in China noch gar nicht gab, also die systematische Verbindung von Schule und Ausbildungspraxis in Betrieben. Das Problem bei seinem Geschäft war allerdings die chinesische Bürokratie und die damit verbundene Korruption...
Meine Bezahlung war mager und betrug umgerechnet ungefähr 500 E, aber ich hatte einen Rückflugticket bekommen und ein kleines Apartment frei und meine Begierde, nach China zu kommen, war einfach zu groß, weshalb ich klaglos akzeptierte und außerdem waren diese 5000 Yuan eine ganze Menge Geld. Zum Lebensunterhalt brauchte ich nur um die 2000, meine Miete war ja schon bezahlt. Mein Vertrag erstreckte sich über ein halbes Jahr. Es sollte ein kurzer Besuch werden. Mein Job war nicht nur das Unterrichten, sondern als Journalist auch Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb nahm mich der Professor schon am dritten Tag meines Aufenthaltes mit zu einem wichtigen Essen mit Vertretern der hiesigen Erziehungsbehörde. Es ging um die Lizenz und die Mietkosten für die Räume der Schule. Sie war in einer neugebauten chinesischen Grundschule untergebracht und lag am Rande der Stadt, jedenfalls weit entfernt vom Zentrum. Ein Stadtrand war allerdings wie bei allen Städten in China nicht so klar festzustellen, die Stadt wucherte in alle Richtungen hin ins Land hinaus aus.
Das Essen fand Sonntagabend in einem etwas schmuddelig wirkenden koreanischen Restaurant jenseits der großen neugebauten Brücke statt. Eine ganze Reihe von Chinesen saßen mir gegenüber, darunter auch ein paar Frauen mittleren Alters. Wir hatten einen eigenen Raum für uns und saßen am Boden, was in vielen koreanischen Restaurants üblich ist. In dem fensterlosen Raum war es dunkel und roch leicht modrig. Professor S. saß dem ranghöchsten der chinesischen Delegation gegenüber, neben ihm seine chinesische Assistentin, eine junge hübsche Frau, die für ihn übersetzte. Der ganze Tisch war voll mit kleinen Schüsseln, großen Platten und Töpfen mit allerlei Fleisch-sorten, Gemüse, Suppen, Nudeln, Reis und deren Gemisch und immer wieder wurden neue Gerichte hereingetragen. Wichtig schien das sich Zu-Prosten zu sein, denn immer wieder wurde angestoßen, man erhob sich dazu manchmal freudig, manchmal wurden kurze Reden gehalten von Prof. S. und dem Leiter der Behörde, von Freundschaft und deutsch-chinesischer Zusammenarbeit war die Rede, man rief „Gambei!“ aus, stieß an und trank. In kleinen Gläschen füllte man sich immer wieder Reisschnaps ein, aber auch Wein war im Angebot und Bier. Das Essen war vom Professor bezahlt und natürlich war es üppig. Geradezu böse wurden die Chinesen, als sie feststellten, dass ich nach dem Anstoßen mein Gläschen nicht auf einen Zug austrank. Sie machten mir ernsthaft deutlich, dass das aber gar nicht erlaubt sei und kontrollierten daraufhin bei jedem weiteren Anstoßen meinen Getränkepegel im Gläschen.
Читать дальше