Sie betraten das Diner mit dem Namen American Roots und setzten sich an die Theke. An den Tischen saßen hauptsächlich Trucker mit traurigen Gesichtern. Sie nippten an ihrem Kaffee, lasen Zeitung oder aßen Hamburger. Sie sahen aus wie stereotype Statisten aus einem schlechten Film. Stan der Trucker nahm sich eine Zeitung und bestellte einen Kaffee und einen Burger mit Extra Käse. Ein Typ mit einem weißen Mützchen und einer fettverschmutzten Schürze stand hinter der Theke und sah Frank mit einem müden Blick an. Eine Zeitlang starrte Frank zurück. Doch dann wurde er ungeduldig und bestellte schließlich eine Coke. Der Typ – nennen wir ihn Arthie – ging zum Getränkeautomaten und griff daneben nach einem Coca Cola-Glas, als: »Nein, tut mir leid… keine Coke bitte. Geben sie mir einen Scotch.« Arthie drehte sich genau so müde und resigniert wie sein Blick, zu Frank und stellte das leere Glas auf die Theke. Nach einem noch müderen Blinzeln öffnete Arthie schließlich seinen Mund: »Laut Paragraph 17b, der internen, offiziellen Hausordnung dürfen in diesem Restaurant und auf dem gesamten Restaurantgelände keine alkoholischen Getränke, die einen festgelegten Maximal-Alkoholgehalt übersteigen, ausgeschenkt oder konsumiert werden. Für allfällige Beschwerden und allgemeine Informationen wenden sie sich bitte an die Geschäftsleitung.«
Frank saß mit offenem Mund auf seinem Hocker und starrte den dürren Arthie an. Jetzt war es Frank der müde blinzelte.
»Ähm… Dann hätte ich gerne ein Bier«, sagte Frank mit einer heiseren, leisen Stimme. Arthie holte wieder tief Luft und begann: »Laut Paragraph 17b, der internen, offiziellen Hausordnung dürf…«
»Ja, ja, ja. Steck dir Paragraph 17b sonst wo hin und gib mir ’ne verdammte Coke.« Arthie starrte Frank beleidigt an und erzählte so was wie Es gibt keinen Grund gleich so grob zu sein und Wenn es ihnen nicht passt, wenden sie sich an die Geschäftsleitung. Doch Frank hörte längst nicht mehr hin und wandte sich an Stan den Trucker. Dieser hatte von der ganzen Geschichte nicht ein Wort mitbekommen. Er war zu sehr in seine Zeitung vertieft.
Als Frank gerade etwas sagen wollte, sah er einen kleinen Bericht in Stans Zeitung. Er konnte den Text nicht erkennen, doch die Überschrift – Steven Bloomdale immer noch vermisst – und das Foto von Frank neben der Schlagzeile reichten ihm vollkommen aus. Es reichte um starke Kopfschmerzen zu verursachen. Es reichte um ein Schwindel- und Brech-reizgefühl auszulösen. Und es reichte um den Lautstärkeregler dieses verdammten Dröhnens bis an die Schmerzgrenze aufzudrehen…
Diesmal machte ihn dieser Zustand wütend – rasend. Er war es Leid sich ohne wirklichen Grund derartig scheiße zu fühlen. Es machte ihn wütend ohne logischen Grund seine Frau, seine Arbeit; sein gesamtes Leben zu verlieren. Am meisten wütend machte ihn die Tatsache, dass er sogar langsam – wie er jetzt begriff – seine Erinnerungen an sein Leben verlor. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern was für einen Wagen er gefahren hatte. Er war wütend. Und er fand er hatte verdammt noch mal das recht dazu. Schließlich lief alles ziemlich beschissen. Beschissen war gar kein Ausdruck, fand er. Er konnte sich nicht vorstellen, dass je jemand anders einen so total verrückten Mist erlebt hatte. Sein Verstand war endlich aufgewacht. Er war der Meinung, dass er seit Tagen nur irgendwie so dahin schwebte.
Das er das erste Mal begriff wie beschissen seine Situation war, stellte sozusagen einen Fortschritt dar. Schließlich hätte er früher in seinem Job auch nicht so leicht aufgegeben. Mein Job! Ich kann mich wieder an meinen Job erinnern. Er wollte gegen diese Mist ankämpfen. Er wollte nicht mehr diesem sinnlosen etwas folgen das ihn nach Mountains End locken wollte. Doch er wusste gleichzeitig, dass er sich dem Problem stellen musste. Er musste trotzdem nach Mountains End. Doch er würde vorbereitet sein. Er würde nach Mountains End gehen. Gleichgültig was ihn dort erwartete, er wollte – musste – sein Leben zurückholen. Er wollte Sarah zurück.
Franks Beine zitterten vor Schwäche, als er von seinem Hocker glitt. Aber das war ihm egal. Da Arthie mit Franks Coke beschäftigt war und die übrigen Gäste zu sehr in ihrem Selbstmitleid schwelgten, bekam niemand mit wie Frank nach Stans Schlüsseln griff. Nicht einmal Stan selbst bemerkte, wie Franks Hand mit der Schnelligkeit eines geübten Magiers nach ihnen schnappte. Franks Verstand drehte sich im Kreis – die ganze Welt drehte sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit im Kreis – als er das Diner verließ. Zielstrebig torkelte Frank wie ein Betrunkener auf Stans Truck zu. Er schloss die Fahrertür auf und blieb wie angewurzelt stehen. Er war noch nie in seinem Leben ein derartiges Ungetüm gefahren. Er konnte so einen Truck gar nicht fahren, glaubte er. Wieso hatte er überhaupt diese Schlüssel genommen? Hatte er ernsthaft vor die alte Marylin zu klauen? Er könnte einfach wieder zurück ins Diner gehen und mit derselben Geschicklichkeit mit der er die Schlüssel mitgehen ließ, sie zurücklegen. Wahrscheinlich würde das sogar funktionieren.
Sein Blick wanderte zu dem mit dem Himmel bemalten Hänger. Er würde nie sehen wie die Lichter bei Nacht aussahen. Würde er jetzt zurück in das Diner gehen und die Reise mit Stan fortsetzen, würde er es vielleicht noch erfahren.
Frank verwarf diese Gedanken und folgte dem anderen Gedanken, welcher sich ihm seit Kurzem aufdrängte. Er watschelte leicht hinkend – wie ein Wahnsinniger – zum Heck des Lasters und betrachtete die schweren Türen. Im nächsten Moment hatte Frank die Schlüssel in das Schloss gesteckt und drehte sie darin um. Mit einem grausigen Knarren öffnete er die Türen. So wie der Truck stand, drang kein bisschen Licht in den Hänger. Frank sah die tiefe Schwärze, dieses Absolute nichts. Stan der Trucker hat das absolute Nichts geladen. Noch ein Schritt weiter und ich versinke im Nirgendwo… In den Tiefen von… Gar Nichts…Dort wo nicht einmal die Schwärze existiert; dort wo nicht einmal das Nichts existiert – weil nichts existiert, dachte Frank, und hielt kurz inne. Fünf Sekunden später stand Frank am hinteren Rand des Hängers und spürte festen Boden unter seinen Füßen. Ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase. Er tastete sich vorsichtig weiter hinein. Er versuchte zu allem was er mit den Händen erfühlte einen harmlosen Gegenstand zuzuordnen. Holzkiste… Noch eine Holzkiste… Vielleicht für Gemüse oder so… Der nächste Gegenstand schien zwar ebenfalls hölzern zu sein, war jedoch zu fein gearbeitet für eine Holzkiste. Jetzt fühlte Frank den charakteristischen Vorsprung der von diesem ansonsten eckigen Ding herauswuchs. Er hob den oberen Teil des Vorsprungs an und entdeckte die Tastatur aus Elfenbein. Klavier, dachte Frank und spielte ein, zwei Tasten an. Bis jetzt nichts Seltsames. Er entdeckte Stapelweise Kartonschachteln. DVD-Player… Garantiert DVD-Player. Und wo sind die Zigaretten und das Gras? Er tastete sich rechts an den Schachteln vorbei und entdeckte eine Kühlbox. Frank riss seinen Arm erschrocken zurück als er die Kälte fühlte. Sein Verstand war im ersten Moment nicht fähig diesen unerwarteten Eindruck zu verarbeiten. Plötzlich spürte Frank eine Bewegung an seinen Füßen. Er quiekte vor Schreck und machte einen Sprung rückwärts, wobei er in dem Stapel DVD-Player landete. Es gab ein lautes Poltern und der größte Teil der Kartonschachteln landete mit großem Getöse auf dem Boden. Vielleicht doch keine DVD-Player… Er hatte sich von dem ersten Schreck erholt, doch sein Herz pochte immer noch wie wild. Dann konnte man ein weiteres Quieken hören. Dieses Mal war es jedoch nicht Frank der quiekte. Das kleine etwas das ihm über die Schuhe getrippelt war, quiekte. Eine Maus schrie sein Verstand. Beruhige dich – nur eine Maus…Doch er hatte genug gesehen – gefühlt. Frank torkelte aus dem Hänger in die frische Nachtluft hinaus und schloss hastig die schweren Türen. Er ging wieder zur Fahrertür. Diesmal öffnete er sie und kletterte hinter das Lenkrad. Als Frank die Schlüssel in den Schlitz steckte, erwachten zwei protestierende Stimmen in seinem Kopf zum Leben. Die Vernunft: Du kannst keinen Truck fahren. Steig aus, sonst verursachst du noch einen Unfall. Und das Gewissen: Du kannst doch nicht den Laster von Stan dem leicht irrsinnigen Trucker stehlen. Schließlich hat er dir geholfen. Frank entschied sich, dass er den Laster sowieso nicht unauffällig auf die Straße bringen würde. Deshalb stieg er aus dem Truck, legte die Schlüssel auf den Fahrersitz und schloss die Tür mit einem lauten Knall.
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