Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass der Wagen weder irgendwann aufgrund von zu vielen Leuten auseinander platzt, noch die darin befindlichen Menschen einen qualvollen Erstickungstod erleiden, sondern immer genug Platz vorhanden ist, um sich wenigstens hinstellen zu können. Interessanterweise passiert das erstaunlich selten (nicht das Hinstellen. Die Reihenfolge. Das Hinstellen passiert sogar sehr regelmäßig).
Wenn hierzulande die Bahn einfährt, bilden sich als allererstes recht ungeordnete Menschentrauben dort, wo wahrscheinlich später einmal die Tür stehen bleiben wird. Das liegt zugegebenerweise daran, dass die Bahn in Hongkong wirklich auf den Punkt genau anhält, während hierzulande ein Spielraum von drei Meter fünfzig nicht unüblich ist, solche Phänomene wie Kurzzug mal außer Acht gelassen. So weit so gut. Wenn die Tür dann aufgeht, passieren in 50 Prozent aller Fälle zwei Dinge:
Fall 1:
Ungefähr 14 Leute wollen aussteigen. Diese 14 Menschen sind meistens so intelligent zu realisieren, dass sie maximal zu zweit zeitgleich aussteigen können, die Breite der Tür gibt einfach nicht mehr her. Kinderwagen, Räder und dergleichen machen das ganze noch enger. Bevor diese 7 Pärchen nun den Wagen verlassen haben, sodass der Pulk der Wartenden bequem einsteigen könnte, denken ein bis zwei der Wartenden, dass das alles viel zu dauert, und quetschen sich kurz nach dem 5. Pärchen vorbei an dem 6. Pärchen (spätestens aber noch kurz vor dem 7.) in den Wagen, was zu einem ziemlichen und völlig unnötigen Gedränge führt.
Bis hier könnte man noch sagen, dass der Rest der Menge ja nichts für diesen einen Idiot kann. Jetzt setzt aber zusätzlich auch noch der Lemminge-Effekt ein.
Kennen Sie nicht?
Am häufigsten zu erleben an roten Fußgängerampeln. Weit und breit ist kein Auto zu sehen und es stehen 10 Menschen an Straße und warten auf Grün. Mittlerweile hat der Gruppenzwang eingesetzt und keiner traut sich, als Erster gegen die Straßenverkehrsordnung zu verstoßen. Sobald jetzt aber die erste Person los geht (ist meisten jemand, der neu hinzukommt und die Gruppendynamik ignoriert) setzen sich mindestens weitere 50-60 Prozent der Gruppe in Bewegung. Im Gegensatz zu echten Lemmingen gucken sich die meisten dieser Mitläufer allerdings schuldbewusst um, weil sie sich irgendwie ertappt fühlen.
Zurück zu U-Bahn: Der Rest der Traube sagt sich so etwas wie: "Okay, wenn der Typ einsteigt, dann ist das ja wohl das Zeichen, dass ich jetzt auch darf", und die Masse drängt ohne zu Zögern in den Wagen.
Dass da immer noch 2-4 Personen sind, die offensichtlich auch noch aussteigen wollen, wird komplett ausgeblendet, was meistens dazu führt, dass das Gedränge kurzfristig noch viel größer wird und sich spätestens der letzte der Aussteigenden seinen Weg in die Freiheit mit mittlerer Gewalt bahnen muss, wenn er nicht noch ein bis zwei Stationen weiter fahren will. Das wird natürlich von 90 Prozent aller jetzt Einsteigenden als bodenlose Frechheit angesehen, schließlich hätte der Typ doch rechtzeitig aufstehen können und außerdem: Jetzt steigen wir ein, beides zeitgleich geht ja wohl nicht! Was für ein Idiot!
Fall 2:
Die Tür geht auf und die Traube derjenigen, die den Wagen betreten wollen, hat sich in einem hübschen und komplett geschlossen Halbkreis um die Tür herum angeordnet, der es jedem dreidimensionalen Menschen unmöglich macht, mehr als einen Meter auf dem Bahnsteig zurückzulegen, sofern man diesen denn überhaupt betreten kann.
Anstatt dass sich jetzt eine noch so kleine Lücke in dem Halbkreis bildet, die es wenigstens einer einzigen Person gestatten würde, seinen Weg fortzusetzen, blickt einen ein akkumulierter IQ von schätzungsweise 50 an, und man hört förmlich: "Hm. Ich will da rein. Da stehen aber Leute im Weg. Warum steigen die denn nicht aus? Das ist jetzt aber doof. Warum gehen die da nicht weg? Ich will doch da rein", verbunden mit einem absoluten Stillstand im besagten IQ-Tiefland. Da wird sich nicht bewegt, nicht mal einen Zentimeter. Es könnte ja dazu führen, dass man diesen unglaublich tollen Platz so nahe an der Tür verlieren könnte.
Höfliches oder auch sehr bedeutungsvolles Anstarren der Menge, um mitzuteilen, dass man als Aussteigender doch gerne jetzt auch wirklich aussteigen möchte, das aber nicht kann, weil dafür kein Platz bzw. Weg vorhanden ist, nützt meistens auch überhaupt gar nichts. Das Gehirn befindet sich bei den meisten gerade komplett auf Durchzug.
Das Einzige, was jetzt noch hilft, ist einfach losgehen und sich, um den Fahrplan nicht unnötig in Verzug zu bringen, den Weg durch die Menge mit leichter, manchmal auch deutlicherer Gewalt zu bahnen, um eine Lücke für sich selber und diejenigen zu brechen, die hinter einem ebenfalls darauf warten, dass sich das morgendliche Rote Meer endlich teilt.
Auch dies wird oftmals mit verwirrtem Gemurre registriert. Man hätte ja mal fragen können. Gibt ja keinen Grund, gleich so unhöflich zu werden!
Auch gerne genommen sind Knotenpunktstationen, bei denen bekannt ist, dass mindestens 50 Prozent der Fahrgäste aussteigen werden, wie z.B. dem Hauptbahnhof. Diejenigen, die an der Tür stehen, aber nicht aussteigen wollen, sollten jetzt Folgendes tun: Kurz mit aussteigen, sich neben die Tür stellen und dann wieder rein in den Wagen, wenn er leer ist. Auch dies wird oft und gerne nicht getan, weil es ist ja unlogisch. Man will ja nicht aussteigen, man will ja weiterfahren. Entsprechend bleibt man einfach stehen und blockiert gekonnt die Breite, die die Fahrgäste zum Aussteigen verwenden können – die Tür – um 30 bis 50 Prozent. Super Idee.
Die anderen 50 Prozent der Fälle gehen zugegebenermaßen einigermaßen geordnet und zügig vonstatten.
Draußen angekommen, ist das Elend aber noch nicht vorbei. Da sich Bahnhöfe oftmals unter oder deutlich über dem Erdboden befinden, muss man in der Regel ein bis zwei Treppen benutzen, um ins Freie zu kommen. Gerade bei manchen U-Bahnhöfen sind Rolltreppen deshalb eine feine Sache. Mal abgesehen davon, dass man auch auf einer Rolltreppe gehen kann, was die ganze Geschichte einfach deutlich zügiger ablaufen ließe, gibt es eine ganz einfache Regel für diese magischen Transportwege: Links Gehen, rechts Stehen. Steht meistens sogar am Anfang der Treppe auf der Seite gut lesbar dran.
Auch hier: Es passen zwei Menschen nebeneinander auf eine Rolltreppe. Wenn weit und breit keiner zu sehen ist, der Anstalten macht, diese Treppe in bewegter Form hinauf oder hinab zu steigen, können sich meinetwegen 25 Leute auf einer Stufe versammeln, um ein spontanes Picknick, eine Kleindemo oder einen Sit-in zu veranstalten. Spätestens im Berufsverkehr sollte man davon allerdings Abstand nehmen.
Man kann aber sicher sein, dass sich auf dieser Treppe, und sei sie noch so kurz, mindestens eine Person befindet, die sich genau neben eine zweite stellt, um dort dann den kompletten hinter ihr befindlichen Verkehr zu blockieren. Frei nach dem Motto: Hier steht schon jemand. Muss also ein guter Platz sein. Stell ich mich mal dazu. Ist ja auch gleich viel geselliger.
Nur mal so zum nebenher: Machen sie das mal z.B. in München. Sie werden staunen.
Das Gleiche gilt übrigens nicht nur für Menschen, sondern auch für Gegenstände. Koffer und dergleichen vor oder hinter sich abzustellen, widerspricht offensichtlich der natürlichen Ordnung. Nein, das Ding muss neben einem stehen! Genau so wie der Einkaufswagen im Supermarkt. Dabei wäre vor sich viel intelligenter. Augen sind ja durch die Bank weg nach vorne gerichtet, also müsste man nicht jedes Mal zur Seite blicken, um zu gucken, ob der Koffer noch da ist. Ebenso lässt es sich viel leichter auf der Rolltreppe rumknutschen, wenn sich der Größere auf die untere Stufe stellt. Aber nein. Das wird alles nebeneinander gemacht.
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