Psychologisch ist diese Situation also ein wenig unangenehm, weil unnatürlich, keine Frage. Aber auch dies ist kein Umstand, der überraschend eintritt. Das passiert jeden Morgen, man könnte sich also daran gewöhnen. Jedoch sind einige Menschen der Meinung, dass die Distanz zum Nächsten niemals die 2 Meter Marke unterschreiten darf, egal wie voll es ist.
Da wird ignoriert, dass es rein aus dimensionalen Gründen nicht funktioniert, seine Beine auszustrecken. Da befinden sich nämlich meist die Beine des Gegenübers, und auch wenn viele Wissenschaftler an dem Problem arbeiten, so ist es leider immer noch nicht möglich, dass sich zwei Gegenstände am selben Ort zur selben Zeit befinden, ohne kurze Zeitreisen oder Dimensionsverschiebungen durchzuführen.
Auch ausladendes Zeitunglesen und dergleichen ist nicht drin, genauso wenig wie den Rucksack auf dem Rücken behalten, sich dann während der Fahrt regelmäßig hin und her drehen, um alle um sich herum ein wenig zur Seite zu schieben oder das Ding jemandem kräftig ins Kreuz zu rammen.
Es werden aber auch gerne Hilfsmittel verwendet, um die anfangs angesprochene Distanz aufrechtzuerhalten. Bestes Beispiel dafür sind Taschen aller Art.
Allgemein gilt: Taschen müssen nicht sitzen.
Sie können es gerne tun, wenn der Platz da ist, meinetwegen kann man sie auch zudecken und anderweitig hegen und pflegen und beschützen. Die Tasche neben sich liegen zu haben hat außerdem den Vorteil, dass man besser ran kommt, keine Frage. Das ist wie gesagt auch in Ordnung, wenn es die Situation erlaubt, aber diese kleinen persönlichen Transportbehältnisse fühlen sich genauso wohl, wenn sie zum Beispiel auf dem Boden abgestellt oder, wenn man Angst hat, das gute Stück könnte dreckig werden, auf dem eigenen Schoß gelagert werden. Im Falle von Einkaufstüten (die können dann ruhig dreckig werden, die Lebensmittel sind meistens noch extra verpackt), bietet sich der Platz zwischen den Füßen an.
Es gibt also keinen Grund, das allmorgendliche Gedränge noch ein bisschen zu verstärken, indem man ca. 5 Prozent der vorhandenen Sitzplätze mit seiner Tasche blockiert, obwohl sich bereits 27 Leute gegenseitig auf die Füße treten.
Passiert aber jeden Tag. Die Dinger werden von diesen Leuten oftmals auch erst weggenommen, wenn man sie laut und deutlich anspricht. Murrend und mit einem giftigen Blick wird dann die gute Gucci-Imitation beiseite geschoben, um den Platz freizumachen.
Aber auch hier: Pennen kann jeder mal. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn man mal einnickt oder gerade völlig geistesabwesend aus dem Fenster guckt oder das Ganze aus anderen Gründen einfach nicht mitkriegt, so steckt oftmals keine böse Absicht dahinter. Entsprechend ist das Letzte, das man jetzt machen sollte, sich einfach auf besagte Tasche oder den Rucksack zu setzen. Auf diese Weise unterstützt man im Zweifelsfalle tatkräftig die eigene Haftpflichtversicherung, aber eine kurzes Ansprechen oder auch Antippen der Person ist meistens völlig ausreichend und führt zum gewünschten Erfolg und alle sind zufrieden.
Das 'Auf die Tasche setzen' passiert übrigens auch gerne, wenn eigentlich gar kein Grund dafür existiert. Auch wenn in der näheren Umgebung sechs Plätze frei sind, kann man Wetten darauf abschließen, dass sich irgendein Depp genau da hinsetzen möchte, wo man gerade seine Tasche platziert hat.
Der Grund für dieses Verhalten ist wahrscheinlich, dass auf den anderen freien Plätzen Kontaktminen oder etwas Vergleichbares vermutet werden. Dort, wo bereits eine Tasche liegt, kann man sich gefahrlos hinsetzen, weil dieser Platz offensichtlich bereits entschärft wurde. Das Prinzip ist das gleiche wie auf der Autobahn. Da hält sich auch hartnäckig das Gerücht, die rechte Spur sei voller Nägel. Da darf man nicht fahren. Völlig egal, wie viel Platz da ist.
Bevor es allerdings zu den gerade beschriebenen Situationen kommt, muss man noch ein anderes Hindernis überwinden. Man muss erst einmal rein in den Wagen bzw. raus.
Es folgt ein kleiner Exkurs.
Als ich vor einigen Jahren in Hongkong war, fragte ich mich anfangs regelmäßig, ob ich blöde bin oder die Chinesen, oder ob das Phänomen der unglaublich häufigen Piktogramme und Hinweise an der doch sehr unterschiedlichen Kultur liegt, und bin schnell zu dem Schluss gekommen, dass Letzteres der Fall ist, das Ganze für einen Westeuropäer aber einigermaßen gewöhnungsbedürftig ist.
So ist es in Hongkong beispielsweise nicht unüblich, dass man an der vertikalen Seite einer Stufe am Anfang der Treppe (dort, wo hierzulande oftmals immer noch Hinweis 'Vorsicht, Frisch Gebohnert!' steht) den Hinweis findet: "Mind the Step!" (Vorsicht Stufe).
Sinnvoll, jedenfalls für die Leute, die gerade ein wenig träumerisch durch die Gegend laufen. In den USA würde ich das sogar erwarten, weil dort vom unmündigen Bürger ausgegangen wird und man den Erbauer der Treppe verklagen könnte, wenn man über eben diese erste Stufe stolpert und nicht darauf hingewiesen wurde, dass sie existiert. Diesen Hinweis jedoch auf jede zweite Stufe zu schreiben, und zwar bis ganz nach oben, halte ich immer noch für ein wenig übertrieben. Und wir reden hier von 26 Stufen.
Genauso befremdet war ich von den Piktogrammen auf den öffentlichen Hongkonger WCs, die einem erklären, dass man sich nach Benutzen der Örtlichkeiten doch bitte die Hände waschen möge und dann mittels mehrerer Bilder auch anschaulich erläutern, wie dieser Vorgang im Einzelnen funktioniert. Aber die Chinesen sind auch der Meinung, dass frisches Obst bei Erkältung eher ungesund ist, sondern die beste Kur in einem kräftigen Süppchen besteht, deren Hauptzutat Fleisch ist, das eine Stunde lang schön weich gekocht wurde.
All das habe ich aber eher schmunzelnd zur Kenntnis genommen und unter der Rubrik 'Andere Kulturen = Andere Sitten' abgespeichert.
Ins Grübeln bin ich gekommen, als ich mit der Hongkonger U-Bahn gefahren bin. Nicht nur, dass sie wesentlich häufiger fährt als hierzulande (geht auch nicht anders bei derartigen Menschenmassen), nein, das Ganze geht auch deutlich gesitteter und zügiger zu als beispielsweise in Hamburg.
Der Grund ist einfach: Auf dem Bahnsteig befinden sich dort, wo sich bei einem stehenden Zug die Türen befinden werden, links und rechts von dieser Fläche kleine diagonale Pfade, die gut sichtbar markiert sind und in deren Mitte ein Pfeil in Richtung der Tür bzw. der Bahn zeigt. Von diesen kleinen Pfaden gibt es insgesamt vier, jeweils zwei links und zwei rechts von der Tür. Sinn der Sache ist, dass man sich:
a) innerhalb der markierten Pfade in einer ordentlichen Schlange anstellt
b) so hinstellt, dass man die aussteigenden Menschen nicht behindert (neben und diagonal weg von der Tür) und
c) dabei in die richtige Richtung hinstellt, sodass man sehen kann, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, nun selbst den Wagen zu betreten (Pfeil).
Ich hielt das ganz damals für etwas übertrieben (den Pfeil halte ich immer noch für etwas übertrieben), aber man muss eines sagen: Es funktioniert. In drei Wochen war ich nicht einmal Zeuge eines Verhaltens, das ich hierzulande jeden Tag beobachten kann und das mich regelmäßig zu Weißglut treibt:
Die U-Bahn fährt ein. Zugegebenermaßen ist man morgens um 8 oftmals ein bisschen langsam im Hirn, aber nach mehreren Jahren sollte sich der oben angesprochene Langzeit-Lerneffekt eigentlich irgendwann einstellen, denke ich jedes Mal. Tut er aber irgendwie nicht. Jeden Morgen passiert das selbe:
Der Zug fährt ein, hält an, die Türen gehen auf, und die Menschen steigen ein und aus. Problem: Sie tun das mehr oder weniger gleichzeitig und völlig ungeordnet.
Die richtige Reihenfolge wäre es – wie in Hongkong – die bereits im Wagen befindlichen Fahrgäste erst aussteigen zu lassen, um dann durch Einsteigen den so frei gewordenen Raum selbst problemlos in Anspruch nehmen zu können.
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