Langjährige Untersuchungen im Sportschießen haben zur Ermittlung einiger wesentlicher Eigenschaften geführt, auf die wir im Folgenden noch näher eingehen werden.
Jede einzelne Handlung des Sportschützen wird psychisch reguliert, sei es das Einnehmen des Anschlages, das Erfassen des Zielbildes oder die Betätigung des Abzuges. Nicht alles ist gleichermaßen bewusst, viele Bewegungen laufen auch nahezu „automatisch“ ab, insbesondere bei erfahrenen Schützen. So kommt zum Beispiel der Finger von selbst, wenn das Zielbild stimmt, ohne dass es eines besonderen Befehls bedarf.
Ein System, das die ablaufenden Regulationsprozesse beschreibt und erklärt, ist die Theorie der Handlungsregulation (Hacker 2005), die auch die Basis unserer Betrachtungen ist. Wir unterscheiden dabei drei Teilsysteme (siehe Abb. 2), die nur in ihrer Einheit regulativ wirksam sind.
❶ Orientierung/Realisierung
Dieses Teilsystem umfasst jene psychischen und motorischen Komponenten, die die eigentliche Durchführung und Kontrolle der Handlung gewährleisten. Dazu zählen die Prozesse der Informationsaufnahme (zum Beispiel Wahrnehmen), der Informationsverarbeitung (Denkoperationen) und die motorische Antwortreaktion (zum Beispiel Betätigen des Abzuges, Führen der Waffe). Leitkriterien dieses Teilsystems sind demzufolge die Kognitionen (Erkenntnisprozesse) und die Sensomotorik.
❷ Antrieb
Im Rahmen des Teilsystems wird das Tun veranlasst und auf ein Ziel hin fixiert. Es geht dabei also in erster Linie um Fragen der Motivation, um Interessen, Einstellungen, Wünsche, Vorsätze usw.
❸ Zustand
Ein optimaler aktuell-psychischer Zustand ist Voraussetzung für eine individuelle Spitzenleistung. Das wichtigste Kriterium für die Einschätzung des psychischen Zustandes ist der Grad der Erregung (auch Aktivierungsgrad genannt). Jeder weiß, dass weder Trägheit noch Übererregung zu Spitzenleistungen führen.
Diese drei Teilsysteme wirken bei der Regulation der sportlichen Handlung gleichzeitig und sind wechselseitig voneinander abhängig. Eine zu hohe Erregung kann zum Beispiel zu hektischen Bewegungen und somit zu Fehlhandlungen führen, diese wiederum verunsichern den Sportler, seine Motivation verändert sich usw.
Der Ausbildungsprozess muss sich also gleichermaßen auf alle drei Teilsysteme in ihrer Einheit beziehen. Der Trainer ist nicht nur Vermittler der sportlichen Technik, er sollte gleichzeitig die Entwicklung einer leistungsfördernden Motivation und die Ausprägung eines optimalen psychischen Zustandes als Schwerpunkt seiner Arbeit betrachten. Dafür benötigt er vielfältige psychologische Kenntnisse. Er weiß, welche Leistungsvoraussetzungen vorrangig und mit welchen Mitteln ausgebildet werden können, anhand welcher Merkmale er leistungsbestimmende Eigenschaften beurteilen kann, wie individuelle Besonderheiten im Training zu beachten sind, welche Möglichkeiten der Selbststeuerung er dem Schützen vermitteln sollte und was bei der Belastungsgestaltung oder auch der Talentsuche zu beachten ist. Auf einige dieser Fragen werden wir versuchen, Antwort zu geben.
2.2. Psychische und sensomotorische Grundlagen der sportlichen Technik
Anhand umfangreicher Analysen in der Schießsportpraxis, in die während eines Jahrzehnts über fünfhundert Schützen vom Anfänger bis zum Olympiasieger einbezogen wurden, konnte der leistungsbestimmende Charakter einiger psychischer und sensomotorischer Leistungsvoraussetzungen belegt werden. Auf die wohl wesentlichsten soll im Folgenden eingegangen werden. Die Erläuterung der ausgewählten Eigenschaften soll dazu beitragen, diese im Trainings- und Wettkampfprozess differenzierter zu erfassen.
2.2.1. Wahrnehmungseigenschaften
Qualität und Geschwindigkeit der Wahrnehmungsprozesse bestimmen entscheidend die Leistung im Sportschießen. Die Abgabe eines guten Schusses ist nur möglich, wenn der Schütze wichtige innere und äußere Informationen schnell und sicher aufnimmt und auch richtig verarbeitet. Dabei geht es in erster Linie um die Erfassung der Parameter des Zielbildes sowie um Bewegungs-, Druck- und Kraftempfindungen („Muskelempfindungen“), die uns Auskunft über die Anschlaghaltung, die Stabilität des Systems Schütze/Waffe oder auch den Druckverlauf (wohldosierte Druckerhöhung oder -verminderung mit dem Abzugsfinger) geben.
Bei der Untersuchung der psychischen Regulation der sportlichen Handlung müssen die Wahrnehmungsprozesse immer in ihrem Zusammenhang mit der gesamten Tätigkeit des Schützen dargestellt werden. Der Orientierungsvorgang als wesentlicher Bestandteil der Handlung im Sportschießen umfasst verschiedene Wahrnehmungskomponenten. Es ist nicht möglich, den Problemkreis der Wahrnehmung auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Wir wollen deshalb einige besonders wichtige Komponenten herausgreifen und näher erläutern.
Die Beurteilung des Zielbildes - zentrale Führungsgröße bei der Regulation der sportlichen Handlung
Die optische Wahrnehmung der Parameter des Zielbildes übernimmt in allen Disziplinen des Sportschießens die Führungsfunktion in der Handlungsregulation. In den Gewehr- und Pistolendisziplinen, die wir in dieser Folge vorrangig betrachten wollen, handelt es sich um die Bestimmung der Mittenlage des Spiegels (geschlossene Visierung) oder des Korns (offene Visierung).
Dieser Ausschnitt aus einem verallgemeinerten Ablaufschema (Gewehr/Pistole) verdeutlicht die Führungsfunktion der optischen Eindrücke. Die verschiedenen Handlungselemente sind um das sogenannte Zentralglied (Bestimmung des Zielbildes) angeordnet, was dessen Rolle in der Handlungsregulation unterstreichen soll. Nur die Beurteilung des Zielbildes entscheidet letztlich darüber, ob der Schuss ausgelöst wird. Alle anderen Handlungsbestandteile haben Voraussetzungscharakter. So ist zwar ein bestimmter Vordruck eine wichtige Voraussetzung, um einen guten Schuss abgeben zu können (ebenso wie die Stabilität des Systems Schütze/Waffe, Atmung, Ausführungsbedingungen), ausgelöst wird der Schuss aber erst dann, wenn das Zielbild stimmt.
Die Beurteilung des Zielbildes stellt eine extreme optische Diskriminationsleistung (Unterscheidungsleistung) dar. Der Schütze muss zum Beispiel in der Disziplin Freie Pistole das Balkenkorn exakt in die Mitte des Kimmeneinschnittes bringen (bei gleichzeitiger Beachtung der Höhe - gestrichen Korn). Kommt es hierbei zu einem Visierfehler von 1 mm nach rechts oder links, so würde theoretisch die Abweichung des Schusses vom Zentrum auf der Scheibe 12,5 cm betragen. Selbstverständlich wird ein Zielfehler in der Sportpraxis nie derartige Ausmaße annehmen, aber selbst ein weitaus geringerer Fehler führt noch zu zielfehlerbedingten Abweichungen, die leistungsentscheidend sein können; besonders dann, wenn man bedenkt, dass zumeist mehrere Handlungsfehler bzw. -beeinträchtigungen (zum Beispiel Instabilität des Systems Schütze/Waffe, Verdrücken) zusammen erst den „Fehlschuss“ ausmachen.
Die Fähigkeit des Schützen, das Zielbild exakt zu bestimmen, bezeichnen wir als optische Diskriminationsfähigkeit. In der Fachliteratur wird diese wichtige Komponente der Wahrnehmung kaum erwähnt, obwohl deren leistungsbestimmender Charakter bereits aus der Tätigkeitsanalyse ableitbar ist. Mit Hilfe eines relativ einfachen Reizmaterials, welches die wesentlichste Komponente der Zielbildbeurteilung, nämlich die Bestimmung der Mittenlage von Korn bzw. Spiegel verallgemeinert abbildet, wurden deshalb Schützen unterschiedlicher Leistungsstärke untersucht. Sie hatten die Aufgabe, einen innerhalb zweier parallel angeordneter Begrenzungslinien variablen, senkrechten Strich bezüglich seiner Lage zu beurteilen und einer von drei möglichen Kategorien (Rechts - Mitte - Links) zuzuordnen. Im Ergebnis der Untersuchungen lässt sich für jeden Schützen ein sogenannter „Mittenbereich“ graphisch darstellen, der Auskunft über den Ausprägungsgrad der Diskriminationsfähigkeit gibt.
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