„Er ist da“, sagte sie, „unten auf der Straße, er sieht zu uns hinauf.“
Winters Blick begann zu flackern, er packte seine Frau bei der Schulter, rüttelte sie, schob sie zur Treppe, die zum Speicher hochführte, und rannte in das Zimmer, von dem aus man auf die Straße hinunter sehen konnte.
„Er ist weg!“ In dem Moment schlug unten die Tür des Haupteingangs zu. Winter, der gerade aus dem Zimmer trat, umfaßte mit beiden Händen den Türpfosten, schloß die Augen und horchte. Victoria sank auf die Treppe, hielt sich am Geländer fest und drückte ihr Gesicht aufs Knie. Da kam von unten ein kurzer, heller Klingelton. Die Kasse war geöffnet worden.
„Das war der Herr Weber! Er ist sehr zeitig gekommen! Jetzt zählt er das Wechselgeld“, rief Winter mit einer Stimme, die wie ein aufgeschreckter Vogel flatterte, „dabei hat sein Dienst noch nicht angefangen. Das ist ein guter Kellner. So einen finden wir kaum wieder.“ Winter kniete sich vor seine Frau auf die Treppe und erzählte ihr hektisch, daß nun sicher auch das restliche Personal kommen würde, die Hilfsköchin, der zweite Kellner und der Büfettier. Sie umarmten sich, lachten und waren dann fast am Heulen. Benno sah, wie Winter zur Speicherluke weiter stolperte, seine Frau hinter sich herziehend. Sein Gewehr stieß an den Lukenrand. Winter nahm es, schien auf Benno zu zielen und rief ihm etwas mit seiner flatternden Stimme zu, die er abwürgte, als unten jemand begann, die Treppe hochzusteigen.
„Bringen Sie den Koffer her und den Mantel, schnell!“ hatte Benno verstanden, er griff nach den Sachen, die neben ihm lagen und sprang in den Speicher.
Winter verschloß die Luke, knipste das Licht an, sah sich um und schob eine schwere Kommode auf den Lukendeckel.
Benno lief in dem großen, kahlen Raum herum und sah zu, wie Winter abgestellte Hohlblocksteine und Dachziegeln heranschleppte und einige Meter von der Luke entfernt aufschichtete. Er lief tief gebeugt, die Ziegeln ganz leise absetzend, schien kaum zu atmen, starrte auf die Luke und richtete dann den Lauf seiner Flinte, über die obersten Steine gelegt, auf sie aus.
„Ich will wissen…“ sagte Benno. Winter legte den Zeigefinger vor den Mund. Der, der die Treppe hochgestiegen war, blieb jetzt im obersten Stock, unterhalb des Speichers, stehen. Ein Schlüssel wurde ins Schloß geschoben, eine Tür geöffnet, aber nicht geschlossen.
„Haben wir da einen Gast?“ flüsterte Winter zu Victoria hin.
„Ja, den Vertreter aus Neuwied.“ Sie machte bei einem der beiden Dachbodenfenster einen langen Hals und sah vorsichtig zur Straße hinunter.
„Ich will wissen, was das hier soll! Was ist los?“ Benno bemühte sich, leise zu sprechen.
„Weil wir die Nächsten sind, darum.“
„Die Nächsten? Sie meinen, die Nächsten nach Marconi und Jan?“ In dem Moment krachte etwas unten, in der Nähe der Luke, splitternd auseinander. Benno sah hin und bildete sich ein, sie würde sich einige Zentimeter heben, was wegen der darauf stehenden Kommode aber unwahrscheinlich war. Winter kniete hinter seinen Steinen und hielt das Gewehr im Anschlag. Es war still, aber Benno glaubte, ständig Geräusche zu hören. Mal ein Kratzen auf dem Dach, mal ein Rascheln unter den Speicherdielen. Er trat neben Herrn Winter.
„Warum sollte er es auf Sie abgesehen haben? Warum?“ flüsterte Benno.
„Weil er weiß, daß uns Jan vor seinem Tod etwas verraten hat. Weil er weiß, daß wir ihn erkannt haben. Er ist keinen Augenblick sicher, solange es uns gibt.“
Jetzt klang von unten ein Geschrei hoch, Glas klirrte, Getrappel auf der Treppe, Männerstimmen.
„Das ist der Herr aus Neuwied“, Victorias Stimme klang müde, „er ist betrunken und randaliert, aber der Kellner kümmert sich.“ Benno spürte, wie sich Herr Winter bei diesen Worten entspannte. Er setzte sich, lehnte das Gewehr mit dem Lauf nach oben an seine Schulter, sprang aber nach wenigen Minuten wieder auf, lief an allen vier Seiten des Speichers entlang, sah zu den Dachluken hoch und überlegte.
„Nein, er hat nur durch die Speicherluke Zugang zu uns.“ Victoria kam aufgeregt heran.
„Wenn er aber in der Nacht die Sicherung herausdreht? Dann sitzen wir im Dunkeln!“ Sie glotzten sich an.
„Ich habe die Lampe“, sagte Winter und holte einen schweren Handscheinwerfer aus dem Koffer.
„Wollen Sie die Nacht hier verbringen?“ fragte Benno.
„Jede Nacht!“ ächzte Winter, am Tag sind wir unten ziemlich sicher, wegen der vielen Leute. Aber in der Nacht ist es für uns hier oben besser. Alles ist übersichtlich und ich habe freies Schußfeld.“ Alle schwiegen und dachten nach. Da pochte es laut gegen die Luke. Victoria kroch hinter die Steine, Herr Winter hob das Gewehr.
„Chef!“ Winter schwieg. Wieder wurde nach ihm gerufen.
„Chef, der Gast aus Neuwied macht Probleme. Er will weitersaufen, dabei ist er schon randvoll.“
„Gebt ihm noch was! Dann wird er umfallen und einschlafen.“
„Soll das jede Nacht so gehen?“ fragte Benno und zeigte auf die Kommode, die die Luke beschwerte. Winter sah ihn seltsam an, hob den Mantel vom Boden und legte ihn seiner Frau um die Schultern.
„Es wird kalt. Aber vielleicht macht er einen Fehler, verrät sich, oder jemand bringt ihn zur Strecke. Wir sollten hoffen.“ Benno stampfte mit dem Fuß auf.
„Nein, Sie könnten was tun: Gehen Sie zur Polizei!“
„Den anzeigen? Den Ehrenbürger? Den ehemaligen Stadtrat?“ Winter lächelte schief.
„Außerdem haben wir keinen einzigen Beweis.“
„Jan hat Ihnen doch etwas verraten.“
„Er kann es nicht mehr bezeugen.“
„Das weiß der Mörder auch! Dann kann er sich doch sicher fühlen und Sie in Ruhe lassen?“ Winter winkte ab. „Er fühlt sich aber nicht sicher. Darum wird er kommen.“
Benno stand und betrachtete die verängstigten alten Leute, die sich in einem Irrenhaus einzurichten versuchten, wie er fand. Sie taten ihm leid.
Er meinte, es sei verkehrt, auf den Mörder zu warten. Das kam wohl, weil er meist als Alleinkoch arbeitete und es gewohnt war, von sich aus initiativ zu werden und für alles zu sorgen. Vom Schreiben der Speisekarte, wo er nur die Mitsprache des Chefs duldete, über die täglichen Fleisch-, Fisch- und Gemüsebestellungen, bis zur Preiskalkulation und dem Kochen selbst. Darin war er geübt, aber nicht im Warten. Man sollte nicht auf den Kerl warten, man sollte ihn angreifen, das wäre vernünftig, dachte er. „Wie heißt er?“
Winter schwieg. Victoria tat, als habe sie nichts gehört und sah zum Fenster hinaus.
Herr Winter hockte auf seinen Steinen und wand sich darauf, als wären sie heiß.
„Wir haben keine Beweise.“ Benno trat dicht an ihn heran, ging in die Hocke, damit Winter ihm ins Gesicht sehen mußte.
„Wie heißt er? Wegen dem Dreckskerl bin ich ohne Job und werde wie ein aidskranker Kinderschänder angesehen. Ich habe ein Recht darauf, ihn zu kennen!“ Benno tippte gegen Winters Knie.
„Ist es Szymczak, dieser Doktor?“
Winter schüttelte den Kopf. Benno saß die Erbitterung im Hals. Er fand, daß ihn sein Chef, der alte, ängstliche Mann, der krumm dasaß und sich an seiner Flinte festhielt, wie Scheiße behandelte. Es war Benno zuviel: Er griff hart zu, packte die Flinte beim Lauf und stand auf.
„Ich leg ihn um! Sagen Sie wer‘s ist, ich tue es.“
Winter zog an seinem Gewehr, aber Benno ließ nicht nach, Winter ließ los und hob langsam das Gesicht zu Benno.
„Wenn Sie es können, dann tun Sie‘s doch.“ Die Worte waren giftig heraus gerotzt, aber in Winters Blick sah Benno jäh hochkochende Hoffnung und Freude.
Victoria war zum Fenster geschlichen und machte jetzt eine heftige Bewegung.
„Er ist da!“. Sie sagte es ganz trocken. Nur ein leichtes Wackeln ihrer Stimme verriet ihre Angst. Benno hielt das Gewehr oben am Lauf und schleifte es hinter sich her zum Fenster. Herr Winter blieb auf seinen Steinen sitzen. Benno sah, daß ihm Hände und Knie schlotterten und verstand, daß Winter nicht abdrücken würde, wenn er es müßte. Er könnte es nicht.
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