„Verdammt“, fluchte Ela und warf genervt ihre Handtasche hinterher. Dann ging sie in die Knie und machte sich daran, ihre Handtasche und ihre Bücher wieder einzusammeln. Sie donnerte die Bücher ohne Hinzusehen auf den Tisch und richtete sich wieder auf. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt.
In diesem Moment teilten sich draußen die Wolken und durch die hohen Fenster fiel goldenes Sonnenlicht herein. Für einen Augenblick vergaß Ela ihren Ärger. Ihr Blick hing an den Wassertropfen in den Zweigen draußen, in denen sich das Sonnenlicht brach, und einen Moment lang war sie erfüllt von der Schönheit und Reinheit dieses Lichts.
Dann verdunkelte sich der Himmel wieder und aus ihren Haaren lief ihr Wasser in die Augen. Ihr Ärger kehrte zurück und Ela ließ sich genervt in den Stuhl fallen. Dann spürte sie, dass jemand sie beobachtete und hob den Kopf. Zwei Tischreihen weiter saß ein Mann, den sie noch nie im Institut gesehen hatte, und sah sie an. Er war mit Sicherheit einige Jahre älter als sie. Ela schätzte ihn auf Ende dreißig; vielleicht sogar Anfang vierzig. Er hatte dunkelblondes Haar, er war schlank und hatte grüne Augen. Vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen mehrere Bücher und Ela bemerkte, dass er keinen Laptop benutzte, sondern sich mit Kugelschreiber Notizen auf einem ganz normalen Din A 4 Karoblock machte. Ela sah sich um, als nähme sie den Arbeitsraum zum ersten Mal war, und stellte fest, dass außer ihm niemand da war. Er sah aus, als ob er an irgend etwas Wichtigem arbeitete und ihr Auftritt musste ihn ganz schön gestört haben.
„Entschuldigung“, sagte sie.
„Macht nichts“, sagte der Mann und bückte sich. Aus einer Tasche, die am Boden stand, zauberte er ein Handtuch hervor und stand auf. Er trug dunkelblaue Jeans und ein sehr gut geschnittenes graues Hemd. Als er um den Tisch herum kam, bemerkte Ela, dass er nicht nur sehr groß, sondern auch ziemlich muskulös war.
Sein Blick war merkwürdig, und er reichte Ela ohne zu lächeln das Handtuch. Ela fand das sehr nett, aber sein Blick verwirrte sie. Und um sich nicht einschüchtern zu lassen, beschloss sie, den fremden Mann, obwohl er offensichtlich älter und wahrscheinlich kein Student war, zu duzen.
„Danke“, sagte sie und nahm das Handtuch, „hast du immer ein Handtuch dabei, wenn du in die Uni gehst?“
„Nein“, sagte der Mann und lehnte sich gegen die Kante des nächsten Tisches, „nur, wenn ich danach noch zum Sport will.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie weiterhin an.
„Aha“, machte Ela. Sie trocknete sich ihr Gesicht und drückte ihre Haare aus. „Danke jedenfalls. Das war sehr nett von dir.“
Sie gab ihm das Handtuch zurück. Er nahm es ohne zu lächeln, den Blick unverändert auf sie gerichtet.
Ela sah ihn erwartungsvoll an, aber er sagte nichts.
Schließlich lächelte sie und fragte: „Wieso starrst du mich so an?“
Der Mann fuhr zusammen.
„Das tut mir leid“, sagte er und rannte beinahe zu seinem Arbeitsplatz zurück, „das war mir nicht bewusst. Du erinnerst mich an jemanden, aber ich komme nicht drauf, an wen. Entschuldige bitte!“
Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und griff sich eines der Bücher.
Ela war jetzt neugierig. Langsam ging sie um die Tische herum zu ihm hinüber.
„Das macht nichts“, sagte sie und warf einen Blick auf seine Bücher. „Wobei hab ich dich gestört?“
Er hob unwillig den Blick. Dann reichte er ihr wortlos das Buch. Es schien sich um eine Fibeltypologie zu handeln. Ela sah sich die Abbildungen an und erkannte, dass es sich um Fibeln der Bronzezeit handelte.
„Du würdest dich gut mit meiner Freundin Fee verstehen“, sagte sie, „die liebt die Bronzezeit.“
Er sah sie interessiert an.
„Du nicht?“
„Nein. Ich habe nie etwas Bronzezeitliches gemacht. Hat mich aber auch nie sonderlich interessiert.“
Er sah enttäuscht aus.
„Das überrascht mich“, sagte er. Ela gab ihm das Buch zurück.
„Naja, wir haben keine Dozenten, die Bronzezeit anbieten. Und ich mag auch dieses hässliche Zeug wirklich nicht.“
„Hässlich.“
Ela zuckte mit den Achseln.
„In dieser Bibliothek fehlen außerdem grundlegende Werke über die Bronzezeit“, sagte der junge Mann.
„Unser Professor ist halt Frühmittelalterspezialist.“
„Und du, hast du dich auch auf’s Frühmittelalter festgelegt?“
Ela zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.
„Ich hab mich überhaupt nicht festgelegt. Ich hab meine Magisterarbeit über wikingerzeitliche Textilreste geschrieben. In vier Wochen gehen meine Prüfungen los, und da hab ich Themen aus der Latènezeit, der Wikingerzeit, der Römischen Kaiserzeit und musste außerdem noch was Bronzezeitliches dazu nehmen, deswegen bin ich nicht so gut darauf zu sprechen.“
„Ach, dann bist du noch gar nicht fertig.“
„Naja, so gut wie.“
„Wie alt bist du denn?“
Die Frage klang in Elas Ohren irgendwie vorwurfsvoll, so als ob sie mit ihren 27 Jahren bereits fertig sein müsse.
„Was ist das denn für eine Frage, wie alt bist du denn?“, schoss sie zurück.
Er hob abwehrend die Hände.
„Schon gut, war nicht so gemeint. Ich dachte, du wärst Doktorandin.“
„Nein, bin ich nicht. Erstmal der Magister, danach mach ich mir Gedanken um meine Diss.“
„Hast du schon ein Thema?“
„Ja, ich bearbeite einige merowingerzeitliche Gräberfelder am Niederrhein. Mit insgesamt mehr als dreitausend Gräbern.“
„Steht das alles schon?“
„Ja. Der Duhler hat sich für mich eingesetzt, ich hab ab Juli ein Stipendium und dann geht’s los.“ Ela atmete tief durch. „Dann geht der Stress weiter.“
„Wie heißt du?“
Ela, überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel, sah ihn überrascht an.
„Michaela“, sagte sie dann, „und du?“
„Tom. Forschung macht eben Arbeit und kostet viel Zeit.“
Ela sah ihn überrascht an. So wie Tom das gesagt hatte, klang es ungeheuer ernst und vorwurfsvoll.
Ela seufzte. „Da hast du recht.“
„Und, was hast Du für ein bronzezeitliches Thema?“
„Aunjetitzer Kultur und Bezüge zum Nordischen Kreis.“
Er nickte. Sie rieb sich müde die Stirn.
„Das Problem ist, dass ich nicht mal weiß, wie ich einsteigen soll. Das Thema ist mir so fremd.“
„Ich hab gehört, es soll dieses Semester eine Exkursion zu bronzezeitlichen Fundplätzen geben. Vielleicht wäre das was für Dich.“
Sie sah ihn interessiert an und nickte dann. „Ja, das ist vielleicht wirklich eine gute Idee. Kommt natürlich darauf an, wann und wie lange, ob ich Zeit hab, während der Prüfungsphase... und es wäre schon gut, wenn die Aunjetitzer Kultur thematisiert würde.“
„Wird sie. Die Himmelsscheibe von Nebra und die Kulturkontakte, die sich an ihr ablesen lassen. Nicht nur zum Nordischen Kreis, natürlich, aber das könnte trotzdem interessant für dich sein.“
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, während er sprach. Ela fand, dass dies nun der merkwürdigste Gesichtsausdruck war, den sie bisher bei ihm gesehen hatte. Er schien mit einem Mal traurig, verbittert und alles in allem überfordert von irgend etwas. Dann stand er plötzlich sehr unvermittelt auf.
„Ich muss jetzt los.“
„Tut mir leid“, sagte Ela und stand auch auf. „Ich wollte dich nicht vom Arbeiten abhalten.“
Sie schob ihren Stuhl weg.
„Ist schon okay.“
Tom packte seinen Block und sein Handtuch ein und klemmte sich die Bücher unter den Arm.
„Viel Glück für deine Prüfungen!“
„Danke. Mach’s gut!“
„Du auch!“
Er verließ den Raum und Ela sah ihm nach. Er war hübsch.
Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, dachte sie. Dann ging sie hinüber zum Karteikartenkatalog und begann nach ihrer Monographie zu suchen.
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